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Ratschlag

Tierwohl richtig vermarkten

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Dr. Michael Götz
am Freitag, 19.11.2021 - 11:36

Verbraucher möchten Tierwohl, aber beim Einkaufen denken sie oft zu wenig daran. Das gilt in der Schweiz wie bei uns. Woran liegt das? Erfahrungen eines Einzelhändlers, einer Wirtschaftspsychologin und eines Tierschutzvertreters.

Der Verbraucher wünscht sich mehr tiergerecht produziertes Fleisch im Angebot, sagen Marktstudien. Doch im Schweizer Einzelhandel ist das Angebot an entsprechend deklariertem Fleisch größer als die Nachfrage. Woher kommt diese Diskrepanz und wie lässt sie sich lösen? Damit beschäftigten sich Fachleute bei einer Tagung des Schweizer Tierschutz STS mit internationaler Beteiligung.

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„Meine Verkäuferinnen können zu jedem Produkt eine Geschichte erzählen“, sagt Jörg Reuter, Geschäftsführer des Berliner Lebensmittel- und Feinkostladens „Vom Einfachen das Gute“. Inhaber von Gütesiegeln bemühten sich sachlich zu informieren, aber sie „berühren“ den Kunden nicht. „Sie sprechen oft nur den Kopf an und schaffen im besten Fall Vertrauen, Sicherheit und Entlastung“, stellt Reuter fest. Um den Kunden freudig zu einem Kaufentscheid zu bewegen, sei es nötig, auch das Herz, die emotionale Ebene, anzusprechen.

Ein Schlüssel dazu sei „Storytelling“. Der englische Ausdruck höre sich nicht nur besser an als das deutsche „Geschichten erzählen“, sondern sei auch umfassender. Geschichten erzählen, lasse sich nämlich auch mit Hilfe von Fotos und Videofilmen. Es müssten aber wahre, authentische Geschichten sein.

Reuter empfiehlt Direktvermarktern, dazu auch die sozialen Medien zu nutzen. Es brauche nicht viel Zeit dafür, wenn man einmal verstanden hat, wie es funktioniert. „Macht einfach ein schönes Foto, lasst Euch vom Augenblick leiten.“ Wer Wertschätzung für seine Produkte schaffe, der werde auch einen angemessenen Preis erzielen.

Reuter ist auch Inhaber von „Grüne Köpfe“, ein Strategieberatungsunternehmen in Berlin, das vor allem große Unternehmen, namentlich Coop oder Rewe, berät. Richtlinien für Gütesiegel sollten nicht in zähen Meetings von Funktionären und Experten verhandelt, sondern von den Verbrauchern und Bauern im Gespräch entwickelt werden, ist Reuter überzeugt.

In Entscheidungen einbeziehen

Als Beispiel dafür nennt der Strategieberater die erfolgreiche, französische Initiative „C’est qui le patron?!“. Hier werden die Verbraucher in Entscheidungen mit einbezogen. Sie werden gefragt, was ihnen wichtig ist und wie viel sie bereit sind, für ein entsprechendes Produkt zu zahlen. Solche auf demokratische Weise entstandenen Produkte haben es auf die Topsellerliste geschafft, sagt Reuter. Gütesiegel, die auf diese Weise entstehen, erhöhten nicht nur die Glaubwürdigkeit von Produkten, sondern seien näher am Verbraucher. „Die Zeit ist reif, um die Nähe zum Verbraucher herzustellen“, hat der Marktstratege längst beobachtet.

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Verschiedene Studien bestätigten, dass eine respektvolle Tierhaltung ein wichtiges Bedürfnis von Verbraucherinnen und Verbrauchern ist. Doch die Nachfrage nach Fleisch, welches im Sinne des Tierwohls produziert werde, bleibe hinter den Erwartungen zurück, stellt Dorothea Schaffner fest. Sie ist Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW in Olten. Der Verbraucher vergesse hinter dem Produkt im Ladenregal das Tier, das dahintersteht. Zur Förderung von Produkten aus tierfreundlicher Haltung rät sie wie Reuter, positive Emotionen zu wecken. Bilder von Natur und Tieren auf der Verpackung eigneten sich dafür besonders gut. Um den Kunden anzusprechen, müsse man kommunizieren, ohne belehrend oder moralisierend zu wirken. Sonst führe dies leicht zu einer abwehrenden Reaktion des Kunden.

Werbung bedient sich oft so genannter „opinion leaders“. Warum nicht auch in der Direktvermarktung erzählen, dass eine bekannte Persönlichkeit sich zum Beispiel biologisch oder vegan ernährt? Michelle Obama, die Frau des früheren amerikanischen Präsidenten, war lange Zeit ein Aushängeschild für biologischen Gemüsebau. Entsprechend lasse sich zeigen, dass der Kauf von respektvoll produziertem Fleisch der Norm entspricht, d. h. von der Gesellschaft sozial erwünscht und richtig ist.

Die richtige Platzierung wählen

Dem Einzelhandel empfiehlt Schaffner, Produkte aus tierfreundlicher Tierhaltung auf Augenhöhe des Kunden und in die Mitte des Regals zu stellen. So seien sie nicht nur deutlich sichtbar, sondern werden als Standardprodukte in den Vordergrund gerückt. Der Kunde solle nicht mehr die Produkte aus tierfreundlicher Haltung suchen müssen, sondern diejenigen aus einer Haltung, die gerade einmal minimalen Tierschutzanforderungen entsprechen. Der Kauf von respektvoll produzierten tierischen Produkten werde somit zur neuen Norm und Gewohnheit.

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Gütesiegel – in der Schweiz Label genannt – haben dort lange Zeit nicht zuletzt dank der staatlichen Tierwohl-Förderprogramme stetig an Marktanteil gewonnen. In den letzten Jahren habe ihr Anteil am Verkauf jedoch stagniert oder ist sogar zurückgegangen, hält Stefan Flückiger, Geschäftsführer Agrarpolitik beim Schweizer Tierschutz STS, fest. Woran liegt das? Der Tierschutzverein ist mit Marktstudien gezielt dieser Frage nachgegangen. „Die Preisrelationen stimmen nicht“, folgert der Marktforscher. Vereinfacht gesagt sind die konventionellen Produkte im Einzelhandel „künstlich“ zu billig, und die Produkte mit Gütesiegel im Vergleich zu teuer. „Dem Verbraucher wird eine Preissituation vorgespielt, die nicht den effektiven Kostenverhältnissen entspricht“, bringt es Flückiger auf den Punkt.

Ein Franken, 90 Cent, pro Liter Milch, oder 6 €/kg Hühnerschenkel gelten in der Schweiz – wo Preise und Löhne höher sind als in anderen EU-Ländern – als Schnäppchen, welche die Verbraucher in den Laden locken sollen. Doch es sei unmöglich, mit solchen Preisen die Kosten für den Landwirt und das Tierwohl zu decken. Trotzdem verleiten solche Billigprodukte den Verbraucher zum Kauf und dieser könne den hohen Preisunterschied zum Produkt mit Gütezeichen nicht nachvollziehen. „Schnäppchen schaden Gütesiegeln“, folgert der Tierschutzvertreter.

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Großverteiler und Discounter kaufen in der Schweiz Produkte mit Gütesiegel nur wenig teurer ein als konventionelle Produkte, aber verkaufen sie unverhältnismäßig teurer, zeigt Flückiger am Beispiel des Eierpreises. Während ein Hennenhalter für ein Freilandei gemäß Statistik des schweizerischen Bundesamtes für Landwirtschaft gerade einmal einen Rappen oder einen Cent mehr erhält als für ein Ei aus Bodenhaltung, seien Freilandeier im Laden 10–20 Rappen teurer. Die Gewinnmarge ist somit überproportional größer als bei konventionellen Produkten. Die Vermutung liegt nahe, dass mit den teuren Gütesiegel-Produkten eine Querfinanzierung des Billigsegments stattfindet, erklärt Flückiger. Die Märkte für Tierwohlprodukte funktionierten deswegen nicht.

Kostenwahrheit und ehrliche Werbung

Um den Absatz tierfreundlich erzeugter Produkte zu fördern, brauche es daher mehr Kostenwahrheit. Produkte mit Gütesiegel sollten nur so viel teurer sein, wie die Preise den Mehraufwand für das Tierwohl und die effektiven Mehrleistungen für Verarbeitung und Verkauf abgelten. Eine Studie der Schweizer Forschungsanstalt Agroscope zeige, dass sich der Gütesiegel-Markt sehr schnell ausdehnen ließe, würden konventionelle Produkte nicht zu Dumpingpreisen verkauft und Produkte mit Gütesiegel nicht künstlich verteuert. Nicht zuletzt verlangt die Tierschutzorganisation von Großverteilern und Discountern eine ehrliche Werbung. Es dürfe nicht sein, mit schönen, naturnahen Bildern für Billigprodukte zu werben, die nicht aus einer solchen Tierhaltung stammen.