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Tiergesundheit

Das Märchen von der schnell verschlissenen Turbokuh

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Dr. Franz Birkenmaier
am Mittwoch, 17.06.2020 - 09:57

Braunviehkühe werden immer älter. Dadurch wird die Zahl der 100.000-kg-Kühe immer größer. Das gilt auch für andere Rassen in Bayern.

Auf einen Blick

  • Die Braunviehkühe erreichen heute nicht nur höhere Lebensleistungen, sondern werden dabei auch älter.
  • Dies hat zu einem erheblichen Anteil auch genetische Gründe.
  • Zucht auf Nutzungsdauer ist deshalb wichtig, zeigt Erfolg und ist mit Genomic heute besser möglich denn je.
  • Jeder Betrieb hat die Möglichkeit, bei der Anpaarung seine (genomischen) Besamungsstiere auch anhand dieses Merkmals auszuwählen.
  • Im Gesamtzuchtwert beim Braunvieh ist die Nutzungsdauer mit 12 % hoch gewichtet.

Falsches Bild gezeichnet

Milchkuh

Seit kurzem steht die Milchproduktion verstärkt im Fokus der Öffentlichkeit. Die Art, wie Milch produziert wird und mit welchen Tieren, wird dabei zunehmend kritisch hinterfragt. Dabei hat sich auch das Bild der schnell „verschlissenen“ Turbokuh im Kopf der Meinungsmacher hartnäckig festgesetzt.

Dass dies zumindest im Allgäu und in Bayern heute nicht so ist, kann eindrucksvoll anhand von LKV-Daten belegt werden. Dabei ist das Braunvieh die Milchrinderrasse, die anteilsmäßig die mit Abstand höchste Zahl an Kühen aufweist, die eine Lebensleistung von 100.000 kg Milch erreichen.

Und diese Zahl nimmt kontinuierlich zu. War es vor wenigen Jahrzehnten noch eine absolute Rarität, wenn eine Kuh die magische Grenze von 100.000 kg erzeugte Milch im Leben knackte, so sind dies heute jährlich weit über 100 Tiere, wie den Jahresberichten der Allgäuer Herdebuchgesellschaft, die diese neu hinzugekommenen Lebensleistungskühe jährlich mit Bild veröffentlicht, zu entnehmen ist.

Dies unterstreicht auch die Wertschätzung dieser Kühe und die Bedeutung der Nutzungsdauer in der Zucht. Denn alte Kühe sind bekanntlich wirtschaftliche Kühe, da sie zum einen die Aufzuchtkosten auf viele Laktationen und damit erzeugte kg Milch verteilen und zum anderen die Jahresleistungen bis zum fünften Kalb noch ansteigen.

Im Prüfungsjahr 2019 erreichten zum Beispiel 141 Braunviehkühe im Zuchtgebiet der AHG neu die Schallmauer von 100.000 kg Milch, ein Jahr zuvor waren dies 111 Kühe. Damit eine Kuh lange im Stall stehen bleibt und somit alt wird, braucht es neben der entsprechenden genetischen Veranlagung ein gutes Management und vor allem auch viel Glück.

Jessi führt die All-Time-Liste an

Einen interessanten Aufschluss über die Entwicklungen bezüglich der Lebensleistungen gibt die All-Time-Liste, die alle Kühe beinhaltet, die im Allgäuer Braunviehzuchtgebiet je die 100.000er Schallmauer durchbrochen haben. Dies sind mit Stand des letzten abgeschlossenen Prüfungsjahres (30. September 2019) bisher insgesamt 1.645 Kühe. Die höchsten je erbrachten Lebensleistungen (nach Fett- und Eiweiß-kg gereiht) sind in der unten downloadbaren Liste aufgeführt. Erstplatziert in dieser Ehrenliste ist aktuell die Playboy-Tochter Jessi von Narziss Wenz, Bolsterlang, die bei sagenhaften 191.049 kg steht. 2016 und 2012 war sie mit zuletzt 16 Jahren sogar auf dem ZLF und sorgte mit ihrer Lebenskraft unter anderem auch in der Tagespresse für Furore. Leider ging sie ab, bevor sie die 200.000 kg Marke erreichte.

Das Management im Betrieb muss stimmen

Eine nicht unwesentliche Voraussetzung dafür, dass eine Kuh alt wird und eine hohe Lebensleistung erreicht, ist ein Betriebsmanagement, das ihr die notwendigen Voraussetzungen bietet. Einige Betriebe schafften es auffallend häufig, Kühe bis zu einer Lebensleistung von 100 000 kg zu halten. Tabelle 2 zeigt die AHG-Betriebe mit den meisten Lebensleistungskühen bisher. Spitzenreiter ist hier aktuell der Betrieb Thomas Steuer in Kaufbeuren mit 21 dieser besonderen Kühe, gefolgt vom Betrieb Ostenried mit 20. Immerhin 718 verschiedene AHG-Betriebe hatten bisher schon mindestens einmal eine 100 000 kg Kuh.

Milchkuh

Die erste Kuh, die den Club der 100.000-er gründete wurde im Jahr 1951 geboren. Die Abbildung zeigt die Verteilung der Lebensleistungskühe auf die verschiedenen Geburtsjahrgänge. Während es bis in die 80er Jahre nur wenige Kühe schafften diese Grenze zu erreichen, nahm die Zahl der LL-Kühe dann vor allem ab Mitte der 90er Jahre enorm zu. Zu berücksichtigen ist bei den jüngsten aufgeführten Jahrgängen, dass diese aufgrund ihres Alters in der Regel noch gar nicht in der Lage waren, diese Lebensleistung zu erreichen. Viele Kühe dieser Jahrgänge stehen derzeit noch in den Betrieben und werden noch lange Milch geben.

Vor 40 Jahren hatten die Kühe ein kürzeres Leben

Miolchkuh

Wie enorm die Lebensleistung in den letzten Jahren gestiegen ist, veranschaulicht die nebenstehende Abbildung . Diese zeigt die durchschnittliche Lebensleistung aller abgegangenen Kühe in Bayern im entsprechenden Jahr. Mittlerweile erreichen Braunviehkühe im Schnitt eine Lebensleistung von 30.000 kg Milch. Vor 20 Jahren waren dies noch rund 8.000 kg weniger.

Diese Steigerung der Lebensleistung ist zum einen natürlich auf eine höhere jährliche Milchleistung zurückzuführen, die heute aber keineswegs eine Verkürzung der Nutzungsdauer zur Folge hat. Im Gegenteil: Gerade in den letzten Jahren ist ein deutlicher Trend zu erkennen, dass die Kühe älter werden. So wurden Braunviehkühe in den vergangenen 40 Jahren noch nie so lange genutzt, wie die im letzten Jahr abgegangenen Kühe mit 1313 Melktagen, wie die Abbildung  veranschaulicht, die die letzten 30 Jahre überspannt. Damit haben sie in den letzten beiden Jahren erstmals die Marke von 1300 Tagen Nutzungsdauer überschritten. Vor 40 Jahren war diese Nutzungsdauer noch 150 Tage kürzer. Zwar ging die Nutzungsdauer in den 90er Jahren bei allen Rassen zurück, seit der Jahrtausendwende steigt diese aber wieder an, zuletzt verstärkt. Und dieser Anstieg hat auch züchterische Ursachen.

Zucht auf Nutzungsdauer bringt ältere Kühe

Dass das Erreichen einer hohen Lebensleistung nicht unwesentlich auch von der genetischen Veranlagung abhängt, zeigt die Auswertung der All-Time-Liste nach Vätern. Hier tauchen altbekannte Besamungsstiere auf, die auffällig viele Töchter unter den 100.000-er Kühen haben.

Einsamer Spitzenreiter ist hier Simvitel mit 124 Töchtern, der auch heute noch einen hohen Zuchtwert für Nutzungsdauer hat. Simvitel hatte aber auch insgesamt sehr viele Nachkommen, was eine nicht unwesentliche Voraussetzung darstellt, um hier gelistet zu sein. Andere Besamungsstiere mit ebenfalls hoher Nachkommenzahl fehlen hingegen im Führungsbereich dieser Liste.

Braunviehstiere als Vererber für hohe Nutzungsdauer

Heute, im genomischen Zeitalter, wird es wohl kein Jungvererber aufgrund der deutlich geringeren Töchterzahl mehr schaffen, in dieser Rangierung zu erscheinen. Und dies, obwohl die jungen, genomischen Besamungsstiere von heute im Schnitt die deutlich besseren Voraussetzungen für eine lange Nutzungsdauer mitbringen, als die Besamungsstiere vergangener Tage.

Milchkuh

Betrachtet man nämlich den genetischen Trend für Nutzungsdauer, d. h. die durchschnittlichen Zuchtwerte der jeweiligen Besamungsstier-Jahrgänge, dann erkennt man, dass seit dem Geburtsjahrgang 2008 bei den Braunvieh-Besamungsstieren in Bayern ein kontinuierlicher Anstieg der genetischen Veranlagung der Nutzungsdauer eingesetzt hat. Insbesondere bis zur Jahrtausendwende gab es hingegen praktisch keinen Zuchtfortschritt bei der Nutzungsdauer. Die einzelnen Stierjahrgänge schwankten hier mehr oder weniger zufällig nach oben und unten.

Dies ist nicht verwunderlich, denn eine Zuchtwertschätzung für die Nutzungsdauer gibt es erst seit dem Jahr 1997. Bis zu diesem Zeitpunkt war eine systematische Zucht unter Berücksichtigung der Nutzungsdauer also gar nicht möglich. Und selbst für die Zeit danach bestand das grundsätzliche Problem, dass für die Nutzungsdauer die Töchterergebnisse erst relativ spät kommen, nämlich dann, wenn die Töchter schon wieder abgehen. Erst seit Einführung der Genomic stehen verlässliche Zuchtwerte für die Nutzungsdauer schon bei jungen Stieren und auch bei weiblichen Tieren zur Verfügung und können berücksichtigt werden.

Eindeutig positiver Trend erkennbar

Milchkuh

Vergleicht man ältere Auswertungen zum genetischen Trend mit dem vorliegenden, so bestätigen ältere Stierjahrgänge in der diesen zuvor nur genomisch basierten Trendanstieg ab dem Jahr 2008 inzwischen mit Töchterdaten. Die Töchter des genannten Stierjahrganges 2008 sind ab 2010 geboren und bei einer Lebensdauer von gut 6 Jahren beim Braunvieh ab 2016 abgegangen.

Wenn man nun die Grafik der Nutzungsdauer der abgegangen Kühe betrachtet, kann man ab etwa diesem Zeitabschnitt eine deutlich positive Trendentwicklung der tatsächlichen Nutzungsdauer erkennen. In Anbetracht des sehr konstanten, positiven genetischen Trends bei der Nutzungsdauer der nachfolgenden Stierjahrgänge, deren Töchter zum Teil noch gar nicht in Leistung stehen, darf man durchaus hoffnungsvoll in die Zukunft schauen.

Berücksichtigen muss man auf der Zeitachse auch, dass wir ja, wie schon erwähnt, erst seit 2011 genomische Zuchtwerte und damit einen Zuchtwert für Nutzungsdauer bei Jungstieren zur Verfügung haben. Wirkungsvolle Zucht auf Nutzungsdauer war bis zur Einführung der Genomic noch kaum möglich. Deshalb beginnt das Älterwerden der Kühe erst seit kurzem sich als Zuchterfolg zu zeigen. Markteinflüsse können aber immer die tatsächliche Nutzungsdauer der Kühe kurzfristig beeinflussen.