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Geschäftsidee

Microgreens vom Microhof

Erfolg mit einer frischen Idee: Paul O’Regan und Julia Nowak (rechts Tochter Hannah) bauen Keimlinge an und vermarkten sie. Ihren Anzuchtraum nennen sie „Experimentierkasten“, weil er genau das ist.
Kilian Pfeiffer
am Mittwoch, 28.12.2022 - 11:11

Julia Nowak und Paul O’Regan betreiben auf wenigen Quadratmetern eine besondere Landwirtschaft: Sie züchten und verkaufen Sprossen.

Landwirtschaft auf 12 m²: Microgreens in allen Farben auf mehreren Etagen. Die Regale sind mit LED-Beleuchtung versehen (Foto l.). Jedem Keimling wird von Hand das Samenhütchen abgenommen (Foto r.)

Zwei Junglandwirte haben im Berchtesgadener Ortsteil Maria Gern eine ganz spezielle Landwirtschaft verwirklicht, die ganz anders daherkommt als gewöhnlich: Julia Nowak und Paul O’Regan betreiben seit zwei Jahren den Anbau sogenannter Microgreens – zu deutsch: junge, essbare Keimpflanzen. Anders als die essbaren Blüten, die die beiden auch produzieren, haben die Sprößlinge auch keine Winterpause: Sie wachsen nicht auf dem Feld oder im Gewächshaus, sondern in kleinen Schalen in hohen Regalen in einem ungenutzten Raum ihrer gemeinsamen Wohnung.

Auf gerade mal 12 m² sprießen hier Kohlrabi, Knoblauch und Koriander neben Brokkoli und Erbsen. Es gibt Radieschen-Jungpflanzen, Zwiebeln und Kapuzinerkresse, Rucola und Sonnenblumen in Babygröße. Jeweils zwei Wochen nach dem Ansäen werden die kleinen Pflänzchen geerntet. Erst vor wenigen Wochen bekam das Paar die Biozertifizierung. Jetzt erwägen die beiden zu expandieren. Denn die Nachfrage nach den Keimlingen ist ungebrochen.

Abgedeckt und gut geschützt: So gedeihen die Sprösslinge in Julia Nowaks Obhut, hier Brokkoli.

„Das Besondere an Microgreens ist der Nährstoffgehalt“, sagt die 27-jährige Julia Nowak. In den jungen Pflänzchen steckt mehr drin als in normalem Gemüse, weiß die gebürtige Berchtesgadenerin. Ihren Freund, mit dem sie die zweijährige Tochter Hannah hat, lernte Julia vor sechs Jahren auf einer Reise nach Irland kennen. Eineinhalb Jahre machte sie „Work and Travel“, Frankreich, Schweden, Finnland, Dänemark. Sie bereiste auch Deutschland zu Fuß und als Anhalter auf der Suche nach interessanten Formen der Landwirtschaft.

Den Traum, sich irgendwann als Selbstversorger zu ernähren, träumt Julia Nowak seit Jugendjahren. Auf ihrer langen Reise blieb sie in Irland hängen und traf dort Paul O’Regan (43). Der gelernte Landschaftsgärtner war im selben Betrieb tätig, in dem Julia damals arbeitete, hat Biolandwirtschaft und Permakultur studiert. Gesucht und gefunden, würden die beiden heute sagen.

Julia Nowak hatte mit der Landwirtschaft zwar schon Berührungspunkte, gelernt hat sie aber etwas anderes: Als Holzbildhauerin ist sie mit dem Werkstoff Holz vertraut. Immer schon legt sie viel Wert auf gesunde Ernährung und beschäftigt sich mit den verschiedenen Kräutern. Auf Microgreens aufmerksam wurde sie tatsächlich nach einer Haaranalyse. Mit der Probe wollte sie herausfinden, ob und an welchen Nährstoffen es ihr mangelt. „Das Labor stellte fest, dass ich Kaliummangel habe, obwohl ich mich immer gut ernähre“, erzählt sie. Der Ratschlag: Mehr Grün essen. Julia recherchierte und stellte fest: In den nur wenige Zentimeter großen und wenige Tage alten Jungpflanzen steckt jede Menge drin, von Proteinen bis hin zu Mineralien.

Sie begann klein – ausschließlich für den Eigenbedarf: Ein wenig Kresse und Sonnenblumen, ein paar Radieschensprossen auf der Fensterbank. „Ich habe herumexperimentiert, was uns überhaupt schmeckt“, sagt sie. Nach und nach vergrößerte sie die Anbaufläche. Freund Paul, der mittlerweile von Irland nach Berchtesgaden übersiedelt war, gab dann den Anstoß, das Projekt groß auszurollen und den Anbau auszubauen. Auch weil er beruflich unabhängig bleiben wollte. „Für ihn kommt nur selbstständiges Arbeiten infrage“, sagt Julia über ihren Partner.

In schwarzen, abgedeckten Boxen im Anzuchtraum, den Julia auch als „unser Labor“ bezeichnet, keimen Sonnenblumen neben Rucola. Der Fortschritt lässt sich fast täglich beobachten.

Präzisionsarbeit: Bei den Sonnenblumensprösslingen gilt es, jede Schale von Hand zu entfernen.

Um den kleinen, mit Fenstern versehenen Raum optimal zu nutzen, bauten die beiden Regale mit LED-Beleuchtung. Entfeuchter entziehen der Raumluft das Wasser, ein Ventilator verteilt sanft Luft im Raum: „Für das Wachstum der Jungpflanzen ist das wichtig“, sagt die 26-Jährige. Penibel wird darauf geachtet, dass die Raumtemperatur stimmt. Die Biosaat wächst in der Bioerde bei optimalem Raumklima am besten. Viele Faktoren spielen für den Erfolg ineinander.

Apropos Bio: Dass die kleine Unternehmung, die mittlerweile unter dem Handelsnamen „Pflanzerl“ läuft, jetzt auch biozertifiziert ist, freut die Jungunternehmer. Das eröffnet den beiden nicht nur zusätzliche Türen, sondern wird auch als Belohnung verstanden. Der lange, manchmal beschwerliche Weg, ist der richtige gewesen, sagen beide.

Wöchentlich erntet das Paar die pflanzlichen Errungenschaften, denen sie beim Wachsen fast zusehen können. Viel Zeit verbringt Julia Nowak im Anzuchtraum, weil die Pflege viel Arbeit erfordert. Wenn aus den kleinen Sonnenblumenkernen die Pflanzen sprießen, sitzen die Kerne wie Hauben auf dem empor schießenden Sprößling. Hunderte Pflänzchen müssen dann von ihrem Hütchen befreit werden.

Eine Wissenschaft für sich ist das Mischverhältnis der verwendeten Erde. „Unser Geheimnis“, sagt Julia Nowak. Hin und wieder unterhält sie sich sogar mit Brokkoli, Kohlrabi & Co. „Die Pflanzerl brauchen die Ansprache“, ist sie überzeugt.

Drei Wochenmärkte beliefert das Paar mittlerweile – darunter den in Berchtesgaden, im österreichischen Salzburg und in Unterwössen. Verkauft werden die Jungpflanzen in der Schale oder als Mix – etwa für Salate. Die Planung, die Belieferung, der Verkauf, alles erfolgt hier in Eigenregie. „Das ist echt viel Arbeit und gar nicht so einfach“, sagt Julia Nowak. Schließlich soll jeder Wochenmarkt auch mit Ware versorgt werden können.

Ein Netzwerk zu knüpfen war für Julia Nowak und Paul O’Regan Neuland. Um in der Welt dieser selbst angebauten Kost Fuß zu fassen, ist das unabdingbar, zumal Microgreens in der Region kaum Bekanntheit hatten. „Überzeugungsarbeit war nötig“, erzählt die Pflanzenkennerin. Zweitens wichtig: Dran bleiben und weiter experimentieren.

Immer wieder versuchen sich die beiden an Neuem. Kürzlich hat Julia Nowak es mit Fenchelsamen probiert. „Der traf als Jungpflanze aber nicht meinen Geschmack.“ Schade, denn Fenchel gilt als besonders nährstoffreich, auch schon im Stadium als Minipflanze: Doppelt so viel Vitamin C wie Orangen soll er enthalten, zudem Mineralstoffe wie Kalium, Kalzium und Magnesium.

Die Unternehmung ist für das Paar noch immer ein großer Experimentierkasten. „Jeden Tag lerne ich dazu“ sagt Julia Nowak. Seit langem sucht sie mit ihrem Freund ein neues Zuhause. Der Traum: ein eigener kleiner Bauernhof mit mehr Platz und Möglichkeiten. Irgendwann, sagt sie, wird der Traum Wirklichkeit.