Der zögerliche Ausbau der Nitratmessstellen und zahlreiche fehlerhafte Messstellen könnten in Bayern ähnlich wie in Mecklenburg-Vorpommern die Ausweisung roter und gelber Gebiete kippen. Seit Ende des vergangenen Jahres steht fest: Gegen die Ausweisung der belasteten Gebiete in Bayern läuft eine Klagewelle. Nach Angaben des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes (VGH) haben 943 Bauern bis zum Stichtag 23. Dezember 2021 Klagen gegen die Ausweisung der Roten Gebiete und damit gegen die bayerische Ausführungsverordnung (AVDüV) beim VGH eingereicht.
Viele Landwirte haben sich zu Interessengemeinschaften zusammengeschlossen, etliche Klagen hat der VGH in Verfahren gebündelt. So sind es laut VGH 38 Normenkontrollverfahren (Hauptsacheverfahren). Somit finden sich hinter jedem Verfahren mehrere klagende Landwirte bzw. Interessengemeinschaften. Allein 876 Klagen von landwirtschaftlichen Betrieben betreut dabei die Rostocker Anwaltskanzlei Geiersberger, Glas & Partner. Der Bayerische Bauernverband berichtet von weiteren Klagen im zweistelligen Bereich.
Zusammen mit den Interessengemeinschaften, bei denen meist ausgesuchte Betriebe klagen, aber von den anderen Berufskollegen finanziell unterstützt und vom BBV betreut werden, stehen nach Einschätzung von Rechtsexperten weit über 7500 Landwirte hinter den Klagen. Schwerpunktmäßig kommen die Klagen nach Angaben der Rostocker Anwaltskanzlei aus dem Würzburger Raum in Unterfranken, Nördlingen und Augsburg (Schwaben) sowie der Ecke Landshut bis Osterhofen in Niederbayern.
Bisherige Lösungsversuche gescheitert
Möglicherweise hätte der Freistaat eine derartige Klagewelle verhindern können, wenn er die Proteste und Einwände der Bauern ernster genommen hätte. Nach BBV-Angaben haben sämtliche Versuche für eine praxisnahe Lösung, die dem Gewässerschutz und auch den landwirtschaftlichen Betrieben dient, nicht gefruchtet. So hat der BBV viele Interessengemeinschaften bei Gutachten und Petitionen unterstützt, indem die betroffenen Landwirte auf die festgestellten Defizite und notwendigen Veränderungen hingewiesen haben. Doch bis Ende 2021 sei keinerlei Veränderung oder Verbesserung eingetreten. Auch die zugesagte Ausweitung des Messstellennetzes kommt nur sehr langsam voran. Nach Angaben des Umweltministeriums kamen 2020 und 2021 rund 240 neue Messstellen hinzu. Anfang 2020 hatte Umweltminister Thorsten Glauber eine Erhöhung von 600 auf 1500 zugesagt.
Enttäuscht ist auch Rainer Seidl, Vorstand von LsV Bayern. Obwohl die vom Verein unterstützten Interessengemeinschaften in einem Gutachten nachgewiesen haben, dass alle 42 überprüften Messstellen Fehler aufwiesen, fiel die Antwort des Umweltministeriums nach Seidls Ansicht „mehr als schwammig und wenig überzeugend“ aus.
Entscheidung über Eilantrag noch im Januar angekündigt
Neben den 38 Normenkontrollverfahren ist beim VGH darüber hinaus auch ein Eilantrag zur Normenkontrolle anhängig. Er wurde Ende September vergangenen Jahres eingereicht. Dazu kündigt das Gericht noch im Januar eine Entscheidung an. Ob bereits der Eilantrag dazu führen wird, dass Bayern einzelne oder alle Roten Gebiete neu ausweisen muss, ist jedoch offen.
Selbst wenn der VGH Rechtsverstöße feststellen sollte, könnte er die bestehende Gebietskulisse zunächst in Kraft lassen. Bei Eilanträgen kann der VGH eine sogenannte Güterabwägung zwischen wirtschaftlichen Interessen des Klägers und dem öffentlichen Interesse des Trinkwasserschutzes vornehmen. Überwiegt das öffentliche Interesse trotz möglicher Rechtsverstöße, hätte dies zunächst keine Folgen. Das Rote Gebiet und die Auflagen für den Kläger hätten weiter Bestandskraft. So befand zum Beispiel das Oberverwaltungsgericht Magdeburg im Juli 2021, dass Sachsen-Anhalt zwar Formfehler bei der Ausweisung der Roten Gebiete unterlaufen sind, diese aber für eine schnelle Aufhebung des Roten Gebietes im konkreten Einzelfall nicht ausreichten.
Doch nicht jede Interessengemeinschaft hat Klagen beim VGH eingereicht. Manchen dauert der Rechtsweg zu lange. Sie verstärken indes den politischen Druck und übergeben Landtagsabgeordneten Petitionen, in denen sie unter anderem eine Überprüfung der jeweiligen Gebietskulisse fordern.
Kippen alle Roten Gebiete?
In den 38 Hauptsacheverfahren führen die klagenden Landwirte mehrere Gründe gegen die Ausweisung belasteter (gelber und roter) Gebiete an. Wie Rechtsanwalt Carl von Butler, Landvokat GmbH, berichtet, geht es vor allem um die Unwirksamkeit der AVDüV. Sollten alle Klagen Erfolg haben, könnten bayernweit die Gebietskulissen ähnlich wie in Mecklenburg-Vorpommern nach einem Entscheid des Oberverwaltungsgerichts Greifswald Anfang November 2021 gekippt werden.
Sollte der VGH die AVDüV in Bayern für unwirksam erklären, würden laut bayerischem Landwirtschaftsministerium dann die Pflichtkulissen nach den Vorgaben der Düngeverordnung greifen. Die Folgen: Die Roten Gebiete steigen von 12 auf 43 % Flächenanteil, die erweiterten Abstände zu oberirdischen Gewässern gelten bayernweit. Somit werden auch die Gelben Gebiete mehr. Der aktuelle Entwurf der neuen Landesdüngeverordnung in Mecklenburg-Vorpommern sieht unter anderem eine Ausweitung der Rote Gebiete von 13 auf 46 % vor.
Konkret bemängeln die zahlreichen Kläger in Bayern unter anderem ungeeignete Nitratmessstellen oder die zu geringe Dichte des Ausweisungsmessnetzes. Zudem habe Bayern auch die Vorgaben zur „immissionsbasierten Abgrenzung“ als Teil der Binnendifferenzierung nicht korrekt angewandt, berichtet Dr. Robert Krüger von der Anwaltskanzlei Geiersberger, Glas & Partner. Teilweise hätte die zuständige Fachbehörde von den drei vorgeschriebenen Verfahren gar keines angewandt, ohne dass dafür eine belastbare Begründung gegeben wird. Somit werden mehr landwirtschaftliche Flächen den mit Nitrat belasteten Messstellen in einem Grundwasserkörper zugeordnet, ohne dass es dafür einen tatsächlichen Anhaltspunkt gibt. Ob das der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ähnlich sieht, wird man wohl frühestens Sommer 2023 sehen. Da erwarten die Rechtsexperten erste Urteile. Doch dann läuft in Bayern der Landtagswahlkampf auf Hochtouren.
Hebelt Bayern Klagen aus?
Das könnte dazu führen, dass Bayerns Staatsregierung während der Gerichtsverfahren Anpassungen an der Ausweisung der belasteten Gebiete vornimmt. So habe auch Nordrhein-Westfalen seine Landesverordnung zum 1. Januar 2022 angepasst, weiß Rechtsanwalt Krüger, ohne dazu verpflichtet gewesen zu sein.
Auch der Bund plant, die Allgemeinen Verwaltungsverordnung zu überarbeiten, hört man aus Berlin. In der Folge müssten die Bundesländer dann wahrscheinlich ihre Verordnungen anpassen. Ändern sich aber während der Verfahren die Rechtsgrundlagen und damit die Gebietskulisse, könnten möglicherweise eine Reihe der Klagen hinfällig werden. „Ich gehe aber nicht davon aus, dass Bayern damit alle Verfahren aushebeln kann“, so Krüger.
Allerdings denkt das Landwirtschaftsministerium derzeit nicht an rechtliche Anpassungen, solange die Verfahren nicht abgeschlossen seien, teilt ein Sprecher mit. Ohnehin geht man von einer „rechtskonformen Umsetzung“ der Düngeverordnung aus. Die Entscheidung des Gerichtes bleibe jedoch abzuwarten.