Die bayerischen Schweinebauern kennen das noch aus den Hochphasen der Corona-Pandemie. Die Milchbauern könnten es erst noch so richtig kennenlernen. Ein Rückstau von Milch und Schlachttieren, weil Molkereien und Schlachthöfe ihre Verarbeitungskapazitäten nicht voll nutzen können. Und im fränkischen Knoblauchsland zum Beispiel fürchten viele Gemüsebetriebe ihre Glashäuser nicht mehr beheizen zu können.
Diesmal ist aber kein Virus die Bedrohung, sondern ein möglicher Gas-Lieferboykott Russlands. Ob Putin ihn für Deutschland aussprechen wird, weiß keiner. Aber mit einem Stopp der Gaslieferungen nach Polen und Bulgarien, bewies er einmal mehr, vor nichts zurückzuschrecken. Beide Länder weigern sich in Rubel zu zahlen. Deutschland will das russische Gas weiter in „Euro und Dollar“ bezahlen, so Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. Aber Putin verlangt offenbar ab diesen Freitag von Deutschland, das Gas in Rubel zu bezahlen.
Agrarbranche auf sichere Gaslieferungen angewiesen
Vor allem Molkereien und Schlachthöfe sind auf sichere Gaslieferungen angewiesen, weniger die Mühlen, aber zu einem Großteil deren Kunden, die Bäcker. Nach Schätzungen des Milchindustrieverbands (MIV) decken die Molkereien rund 80 % des Energiebedarfs über Gas.
Auch in der Fleischindustrie geht es nicht ohne Gas, zum Beispiel bei der Schweineschlachtung beim Abflämmen. Hinzu kommen die Beheizung von Brühkesseln, Wärme für die tägliche Reinigung und der Betrieb der Blockheizkraftwerke.
Rückstau bei Milchabholung und Schlachtieren möglich
„Bei eklatanten Gasmangel und abgesenkten Verarbeitungskapazitäten könnte manche Molkerei spätestens am dritten Tag zumindest teilweise die Milch von den Bauernhöfen nicht mehr abholen“, warnt Molkereiexperte Ludwig Huber vom bayerischen Genossenschaftsverband. Seiner Meinung nach sind bayerische Unternehmen aber sehr unterschiedlich von einem Lieferstopp betroffen, da sie ihren Energiebezug sehr unterschiedlich organisiert hätten. Huber moniert, dass es bis heute keine Zusage weder von politischer Seite noch vom Netzbetreiber für eine Notversorgung der Molkereien gibt.
Das Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) betont, beim Wirtschaftsministerium intensiv darauf zu drängen, dass die Ernährung als kritische Infrastruktur für die Lebensmittelversorgung „angemessen“ berücksichtigt wird, so eine Ministeriumssprecherin. Eine konkrete Ansage ist das nicht. Im bisherigen Notfallplan der Bundesregierung taucht die Ernährungsindustrie erst gar nicht auf. So werden private Endverbraucher oder grundlegende soziale Dienste wie Krankenhäuser bevorzugt.
DRV drängt auf Aufnahme in Notfallplan
Auf die Aufnahme der Ernährungsindustrie in den Notfallplan drängt auch der Deutsche Raiffeisenverband (DRV) in den jeweiligen Ministerien. Das müsse ebenfalls für die gesamte Wertschöpfungskette gelten, ergänzt DRV-Energieexperte Guido Seedler. Zudem versucht der DRV den Verantwortlichen klar zu machen, unter allen Umständen einen Lieferboykott und damit Gasmangel zu vermeiden. Bereits Mitte März haben sich alle BBV-Präsidenten dafür ausgesprochen, die Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft mit Energie und Betriebsmitteln bevorzugt zu versorgen.
Auch die Länderagrarminister unterstützen Anstrengungen und Maßnahmen, um die „systemrelevante Land- und Ernährungswirtschaft“ zu stärken , so der Beschluss auf ihrem Frühjahrstreffen Anfang April. Das lässt auf Nachbesserungen im Notfallplan hoffen.
Molkereien prüfen Alternativen
„Erschwert wird die derzeitige Lage durch die herrschende Unsicherheit“, meint Susanne Glasmann, Verband der Bayerischen Privatmilchwirtschaft. Sie betont aber, dass die Molkereien mit Hochdruck daran arbeiten, unter allen Umständen die Milchabholung und Verarbeitung zu gewährleisten. „Die Unternehmen spielen Szenarien durch, um individuell Energieengpässe überbrücken zu können“, bestätigt sie.
Nach Brancheninformationen prüfen beispielsweise viele Molkereien und Schlachthöfe wieder verstärkt Heizöl oder andere Energiequellen zu nutzen, um im Krisenfall weiter Milch verarbeiten zu können. Doch ist eine Rückumstellung nur bedingt möglich, da die hohen Anforderungen der Bundesimmissionschutzverordnung einen Heizöleinsatz nicht mehr erlauben würden, heißt es. Hier müsste die Politik also begrenze Ausnahmen zulassen.
Netzagantur entscheidet flexibel
MIV-Geschäftsführer Eckhard Heuser rechnet daher fest damit, dass Milch- und Fleischindustrie als systemrelevant eingestuft werden, um einen Rohmilch- oder Schweinestau auch aus Tierschutzgründen zu vermeiden.
Auch wenn Molkereien oder Schlachtunternehmen zur kritischen Infrastruktur zählen, heißt es noch nicht, dass sie bei einem russischen Lieferboykott in jedem Fall die benötigten Gasmengen erhalten. Die endgültigen Entscheidungen fällt die Bundesnetzagentur.
Auf Nachfrage des Wochenblatts teilt sie mit, in einer Mangellage die Entscheidungen anhand von Einzelfällen zu treffen, da viele Parameter nicht vorher zu sehen seien. Daher bereite man auch keine „abstrakten Abschalte-Reihenfolgen vor. Derzeit erstellt die Bundesnetzagentur eine Sicherheitsplattform Gas. Sie soll bis 1. Oktober 2022 stehen. Hier müssen sich alle großen Gasverbraucher registrieren. Anhand dieser Daten will sie dann im Krisenfall den Gasverbrauch regeln.
Abhängigkeit vom russischem Gas sinkt, Vorräte steigen
Bayerns Wirtschaftsministerium, das als eines von vier Ländern Mitglied im Berliner Krisenteam Gas ist, sah zumindest bis Anfang dieser Woche aber keine Anzeichen für einen Stopp der russischen Gaslieferungen nach Deutschland. Das Bundeswirtschaftsministerium bestätige, die Gasversorgung sei gesichert. Zudem steigen die Vorräte in den Speichern. Nach Angaben der Bundesnetzagentur sind sie seit Anfang März stetig auf rund 35 % gestiegen. Damit bewegen sie sich im mehrjährigen Durchschnitt aber noch an der unteren Linie.
Es gab Anfang Mai auch schon doppelt so hohe Vorräte. Keiner weiß aber, wie lange die derzeitigen Vorräte bei einem russischen Gasboykott ausreichen werden. Ab Juli beginnen laut Energieexperten die Einlagerungen für den nächsten Winter. Auch die Bundesnetzagentur wagt keine Prognosen. Ein Trostpflaster: Innerhalb von rund zwei Monaten ist laut Habeck Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas von 55% auf 35 % gesunken.
Deutscher Düngerproduktion droht Stillstand
Selbst wenn die Molkereien, Schlachtunternehmen und Bäcker im Krisenfall bevorzugt Gas erhalten sollten, bleibt offen, ob auch deren Zulieferer weiter am „Netz“ bleiben können. So sind Molkereien und Schlachtunternehmen auf Verpackungen und Reinigungsmittel oder die Entsorgung von Schlachtabfällen angewiesen, damit die Lieferketten reibungslos funktionieren.
Landwirte brauchen nicht nur Gas zum Beispiel für Ferkelheizungen oder den Unterglasanbau, sondern auch Düngemittel für die kommende Aussaat.
FAO-Experte Dr. Josef Schmidhuber rechnet im Falle eines Gasboykotts mit einem Stopp der deutschen Düngerproduktion. Seiner Einschätzung nach werde Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck der Lebensmittelproduktion den Düngerherstellern den Vorzug geben. Ohnehin sei es bei hohen Gaspreisen günstiger, den Dünger aus anderen Drittländern beispielsweise den USA zu importieren. Damit dürfte Mineraldünger noch teurer werden, falls Putin den Gashahn sperrt.