Berlin Hart ins Gericht ging der der Göttinger Wissenschaftler Prof. Dr. Andreas von Tiedemann mit dem EU-Gesetzesvorschlag zum Halbieren des Pflanzenschutzes. „Der Kommissionsentwurf ist wissenschaftlich nicht begründet“, so von Tiedemann. Es gebe keine wissenschaftliche Studie, die belege, dass ein Verbot oder Verringerung von Pflanzenschutzmitteln ein Artensterben verhindere oder automatisch zu einer höheren Artenvielfalt führe.
„Der EU-Entwurf ist ein Beispiel für eine weitere Fehlsteuerung der Pflanzenschutzpolitik, die seit Jahren [..] auf einer falschen Nutzen-Risiko-Bewertung des Pflanzenschutzes beruht“, so der Wissenschaftler in seiner Stellungnahme. Diese gab er bei der Sachverständigenanhörung am Montag (6.2.) im Agrarausschuss des Bundestags ab. Die Anhörung fand anlässlich eines Antrags der Unionsfraktion statt.
Nahezu einstimmig kamen die sieben Experten zum Schluss, dass Brüssel den vorliegenden Entwurf zum nachhaltigen Pflanzenschutzmitteleinsatz (SUR) überarbeiten müsse. Statt pauschaler Verbote seien auf freiwilliger Basis regionale, passgenaue Managementpläne gezielt in bestimmten Schutzgebieten nötig, mit klaren Zielvorgaben. Damit hat Bundesagrarminister Cem Özdemir einiges in Brüssel zu tun, um Schlimmeres von Landwirten abzuwenden.
Gefahr einer Anbaukonzentration?
Von Tiedemann ist zudem davon überzeugt, dass bei einer ordnungsgemäßen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln eine Verbrauchergefährdung ausgeschlossen ist. Zudem warnte er davor, dass der EU-Entwurf sogar die Biodiversität zusätzlich gefährden könnte. Landwirte könnte wegen fehlender Pflanzenschutzmittel weniger Raps, Zuckerrüben, Kartoffeln und Leguminosen anbauen. Folge: Der Anbau würde sich dann auf Mais und Getreide konzentrieren.
Für Prof Dr. Josef Settele, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, wäre diese Anbaukonzentration eine „Katastrophe“ für die Artenvielfalt. Aus seiner Sicht gefährdet ein zunehmender Maisanbau die Biodiversität massiv. Er bestätigte indes Tiedemanns Aussagen, wonach Pflanzenschutzmittel keine Insektenart ausrotte, weder Schädlinge noch Nützlinge. Allenfalls könnten lokale Populationen gefährdet sein. Wissenschaftliche Belge dafür fehlten aber. „Das alles ist sehr komplex“, räumte Settele ein. Dennoch begrüßte er grundsätzlich den Ansatz der EU-Kommission, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln bis 2030 halbieren und die Schutzgebiete ausweiten zu wollen. Schließlich hat er bei der Montrealer UN-Weltnaturschutzkonferenz an der Resolution zum Artenschutz Ende Dezember mitgewirkt. Diese fordert gar einen 30-prozentigen Anteil an Schutzgebieten.
Flexibler Ansatz statt pauschales Verbot
Der Gefahr einer Anbaukonzentration widersprach indes Professorin Sonoko Dorothea Bellingrath-Kimura, Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF). Nach ihren ersten Forschungsergebnissen blieben durchaus Leguminosen in der Fruchtfolge, trotz Verringerung des Pflanzenschutzmittelaufwands um 30 bis 50 %. Die Gefahr von engeren Fruchtfolgen sah sie nicht. Allerdings seien Anbausysteme, Stichwort integrierter Pflanzenschutz, und Bodengesundheit neu zu denken.
Kritisch sieht Dr. Tewes Tralau, Bundesamt für Risikobewertung, den Ansatz der EU-Kommission, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln pauschal zu halbieren. Schließlich schützen Pflanzenschutzmitteln Verbraucher auch vor schädlichen Pilztoxinen oder Schaderregern in der Lagerhaltung. Bereits jetzt seien weltweit ein Viertel des Getreides mit Pilzen belastet, bei vielen Menschen sei die Belastung nachweisbar. Daneben würden Verbraucher in Erholungsgebieten auch vor dem Eichenprozessionsspinner durch Pflanzenschutzmittel geschützt. Tralau plädiert daher für einen flexibleren Ansatz. Ohnehin glaubt er nicht daran, dass Ziel einer Halbierung bis 2030 noch zu schaffen. „Das ist sehr ambitioniert“.
Versorgungssicherheit in den Blick nehmen
Wie Tralau warnt auch Bernhard Krüsken, Generalsekretär des Deutschen Bauernverbands (DBV), vor einer Verlagerung der Nahrungsmittelproduktion in Drittländer sowie Problemen der Versorgungsicherheit. Krüsken schätzt, dass durch das geplante Verbot von Pflanzenschutzmitteln in Landschaftsschutzgebieten und die beabsichtige Halbierung rund 5 Mio. ha Ackerland betroffen sind. Bei rund 30% Ertragsrückgang würde dies in Deutschland bis zu 10 Mio. t weniger Getreide bedeuten, rund ein Viertel der deutschen Getreideernte. Der DBV unterstütze daher die Forderung des EU-Agrarrates an die EU-Kommission, eine neue Folgenabschätzung vorzulegen.
Er plädierte daher, den kooperativen, freiwilligen Ansatz weiter zu stärken, statt einem pauschalen Verbot über das Ordnungsrecht. „Ein pauschales Verbot erlaubt nach dem EU-Recht keine Förderung mehr“, warnt der DBV-Vertreter. Auch die Förderung des Ökolandbaus könnte negativ betroffen sein.
Förderung und Beratung aufstocken
Prof. Jens Karl Wegener, Julius -Kühn-Institut, und Frank Gemmer, Industrieverband Agrar (IVA), warben bei den Bundestagsabgeordneten, auf mehr auf Digitalisierung und neue Technologien wie Züchtungstechniken zu setzen. „Wir brauchen ähnlich wie bei der Energie einen Doppel-Wumms in der Pflanzenschutztechnik“, appellierte Wegener. Er hält aufgrund neuer Techniken wie teilflächenspezifische Ausbringung große Einsparpotentiale bei Pflanzenschutzmitteln für realisierbar. So ließen sich beispielsweise durch Spot-Applikationen Herbizide in Einzelfällen um bis zu 90 % einsparen. Bei Fungiziden sieht der Experte vor allem durch bessere Prognosemodelle weiter Verringerungsmöglichkeiten. Allerdings sei die Technik für Landwirte sehr teuer und derzeit kaum wirtschaftlich. Daher plädierte Gemmer (IVA) unter anderem die digitale Präzisionslandwirtschaft noch stärker finanziell zu fördern. Der IVA-Vertreter verwies in seinem Statement auf flächenbezogenen Beihilfen, ähnlich wie in Baden-Württemberg für spezielle Düngungsmaßnahmen. „Dies macht den Einsatz neuer Techniken auch für kleinere Betriebe attraktiver“, argumentierte Gemmer. Zudem sollen seiner Meinung nach Innovationen im Pflanzenschutz wie Low-Risk-Produkte, biologische Pflanzenschutzmittel oder resiliente Sorten gezielt gefördert werden. Auch seien die Beratungsangebote in diesem Bereich weiter ausbauen.
Behörden brauchen mehr Personal
Der Göttinger Experte von Tiedemann gab zu bedenken, dass neue Züchtungsmethoden wie Genschere nicht zwangsläufig Pflanzenschutzmittel überflüssig würden. Aber sie könnten mitthelfen, Einsatzmengen zu verringern. „Es ist ein wichtiges Innovationsfeld, das aber noch Zeit braucht, bis geeignete Sorten praxisreif sind“, so der Wissenschaftler.
Dr. Tralau ergänzte, dass vor allem die Zulassung neuer Mittel zügiger vorankommen müsse. Daneben sei der Datenaustausch zwischen den Bundesländern für eine bessere Präzisionslandwirtschaft wegen Schnittstellenproblemen schwierig. Um das abzustellen, müsste die öffentliche Hand massiv Personal in den Behörden aufstocken. Der Sachverständige geht von einem bundesweiten Bedarf von über 1000 neuen Stellen auf.