Die Verpackung ist wichtiger als der Inhalt. Das klingt banal, trifft aber oft ins Schwarze. Die EU-Kommission hat ihr Reformpaket mit dem Aufkleber „Klimaschutz“ versehen, und damit einen herausragenden Beleg dafür erbracht, wie steuerbar politische Debatten sind. Wer Kritik übt, muss nun damit rechnen, als Verhinderer einer Jahrhundertchance stigmatisiert zu werden. Nur wer sich uneingeschränkt für die Vorschläge der EU-Kommission ausspricht, oder sogar noch eine Schippe drauflegt, darf sich Klimaschützer nennen.
Für den Klimaschutz an sich ist das kontraproduktiv. Die Gemüter erhitzen sich jetzt im Streit darüber, wie das bürokratische Regelwerk einer im Kern bereits vorgegebenen EU-Politik aussehen soll. Eine inhaltliche Diskussion darüber, was dem Klima dient, welche Maßnahmen in Frage kommen, welche Effekte diese versprechen und wie man sie in die Wege leitet, findet nicht statt. Genau das wäre aber nötig, um dem im Pariser Klimaabkommen gesetzten Ziel, die globale Erwärmung bis 2050 auf unter 2 Grad zu halten, näher zu kommen. Stattdessen wird wieder einmal ein politisches Scharmützel vom Zaun gebrochen, das am Ende viele Verlierer kennt.

Das Pariser Klimaabkommen will die Erderwärmung bis 2050 auf unter zwei Grad begrenzen. Erreicht werden kann das nur, wenn die Menschheit die Erde als Ganzes begreift.
Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander

Die Wissenschaft hat in den zurückliegenden Jahren gebetsmühlenartig wiederholt, worin sie die größte Gefahr für Klima und Biodiversität sieht: In der Landnutzungsänderung. Nun scheint manchen Politiker und Interessenverbänden dieses Wort zu lang zu sein. Sie unterschlagen einfach das Element „änderung“ und gelangen zu der Aussage „das größte Risiko gehe von der Landnutzung aus“ und schon landet man bei dem Punkt, in Europa Flächen aus der Produktion herauszunehmen.
Davon halten Richard Fuchs, Calum Brown und Mark Rounsevell, Experten für Geoökologie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) wenig. Sie haben den Green Deal einem Klimacheck unterzogen und kommen zu einem verheerenden Urteil: Unterm Strich würden die EU-Mitgliedsstaaten Umweltschäden nur in andere Länder auslagern, während sie gleichzeitig die Lorbeeren für die grüne Politik im eigenen Land einheimsen.
Die Begründung dafür ist, dass Europa stark von Agrareinfuhren abhängig ist, nur China importiert mehr. Dies ermöglicht es den Europäern zwar, weniger intensiv zu wirtschaften. Doch die Importe stammen aus Ländern, deren Umweltgesetze laxer sind als in Europa. Und die EU-Handelsabkommen fordern nicht, dass die Importe nachhaltig produziert werden. Der Einsatz von Gentechnik, in der EU nicht mehr zugelassene Pflanzenschutzmittel und hohe Düngermengen zählen bei den Handelspartnern der EU zur Tagesordnung.
In einem Gastbeitrag in der Zeitschrift Spektrum untermauern die Wissenschaftler ihr Urteil mit Zahlen und Fakten. Der gleiche Artikel findet sich auch in der Zeitschrift nature mit etwas umfangreicheren Grafiken, allerdings in einer englischen Fassung.
Mehr statt weniger produzieren

Als eine mögliche Maßnahme schlagen die Forscher des KIT vor, die einheimische Produktion zu erhöhen, um die Abhängigkeit von Agrarimporten zu vermindern. Die EU sollte sich zu einer nachhaltigen Intensivierung bekennen. Damit bewegen sich die Wissenschaftler in der Gesellschaft anderen Studien, wie etwa „Bending the curve of biodiversity loss“, in der die Autoren eine nachhaltig intensive Landwirtschaft als Instrument gegen einen steigenden Landverbrauch und den damit verbundenen Klimaschäden vorschlagen.
Ziel der Wissenschaftler ist, Regionen mit hoher Artenvielfalt und großen Kohlenstoffsenken zu erhalten. Dabei denken sie weniger an Gebiete im dichtbesiedelten und seit Jahrhunderten vollerschlossenen Europa, sondern mehr an Überseeregionen. So bemängeln sie, dass zwischen 1990 und 2014 rund 11 Millionen Hektar außerhalb Europas abgeholzt worden, um Nutzpflanzen anzubauen, die innerhalb der EU verbraucht wurden. Davon betroffene Gebiete befinden sich vor allem in Brasilien und Indonesien. Solche Auswirkungen müssen vermieden werden, wenn der Green Deal die globale Nachhaltigkeit fördern soll, so das Statement der Forscher.
Flächenhunger Europas steigt

Zum Spektrum der Wissenschaftler zählt sogar, Gebiete mit geringer Artenvielfalt oder nicht landwirtschaftlicher Nutzung wieder der Landwirtschaft in der EU zuzuführen, um den Druck auf die Tropen zu verringern. Das ist nun ganz etwas anderes als es Farm-to-Fork oder die europäische Biodiversitätsstrategie vorsehen.
In ihren Ausführungen nehmen die KIT-Forscher auch die europäische Landwirtschaft mit in die Pflicht. So kritisieren sie die Abholzung von Wäldern in Brasilien für den Anbau von Ölsaaten, die zum Teil in europäischen Futtertrögen landen. Ebenso raten sie von der Bioenergie ab. Dies ist im Argumentationsstrang nachvollziehbar und auch konsequent und legt die Logikbrüche in der EU-Agrarpolitik und der deutschen Umweltpolitik schonungslos offen. Beide winden sich immer mühsam darum herum, warum Energiepflanzen in Konkurrenz zur Nahrungsmittelerzeugung steht, Stilllegung und Extensivierung aber nicht. Fakt ist: Je mehr Fläche in Europa aus der Nahrungsmittelproduktion genommen wird, desto größer wird der Ausgleichsbedarf im außereuropäischen Raum.
Mitteleuropa zählt zu den Gunststandorten
Weltweit gesehen gibt es drei besonders günstige Agrarstandorte: Mitteleuropa, Teile Chinas und Nordamerika (Cornbeltgebiet). Witterung, Boden und Niederschlag erlauben eine effiziente Nahrungsmittelproduktion bei relativ geringem Treibhausgasausstoß, wobei hier die Betonung auf relativ liegt. Ganz ohne geht es nie.
Außerdem haben diese Regionen den größten „Sündenfall“, nämlich die Entwaldung, bereits seit langem hinter sich, so dass hier der immense Treibhausgasausstoß durch eine Urbarmachung bereits abgeflacht ist.
Global denken und handeln

Wer Flächen in Europa aus der Produktion nehmen will, muss mit folgenden Konsequenzen rechnen.
- An anderen Standorten wird deutlich mehr an Fläche als Ausgleich benötigt, da es nur wenige vergleichbare Gunstlagen gibt.
- Die Erschließung neuer Flächen erfolgt häufig unter Brandrodung oder Trockenlegung. Damit ist der Schaden bei einer Verlagerung der Produktion aus Europa heraus mit deutlich höheren Schäden verbunden als eine Weiternutzung der hiesigen Flächen.
- Hinzu kommt der Energieaufwand für den Transport.
- Hinzu kommen die negativen Umweltauswirkungen durch Produktionsmethoden, die in Europa nicht mehr zugelassen sind. Das trifft beispielsweise auf den Pflanzenschutz und die Düngung zu.
Dazu ein Beispiel: Das Bundesumweltamt gibt für die Landwirtschaft in Deutschland einen Ausstoß von 63,6 Mio. t CO2-Äquivalente für 2018 an. Die Zerstörung des Regenwaldes sorgte laut Angaben der FAO allein im Jahr 2017 für 5.200 Mio. CO2-Äquivalente, also das 82-fache. Die deutschen Bauern liefern als Gegenleistung immerhin große Mengen an Nahrungsmitteln. Nach der Rodung des Regenwaldes ist noch kein einziges Samenkorn gelegt.
EU versagt dabei, ihren Bürgern die Notwendigkeiten zu erklären

Nun sind die Wissenschaftler keine Fantasten. Sie wissen sehr genau, dass die Forderung nach einer Steigerung der heimischen Produktion politische Brisanz hat. Denn was sie fordern, könnte durchaus Umweltkosten innerhalb der EU verursachen. Nichtsdestotrotz gehen sie davon aus, dass die Lebensmittelproduktion in der EU effizient abläuft: „Aus unserer Sicht könnten Sojabohnen in Europa auch ohne genetische Veränderung mit weniger Dünger und auf weniger Land produktiver angebaut werden als anderswo. Die EU ist jedoch nicht in der Lage, ihren Bürgern die derzeitigen Kompromisse zwischen Importen, inländischer Produktion und Konsum zu erklären.“
Dazu ein kleines Rechenexempel: Das Internetportal Faszination Regenwald geht davon aus, dass in einem ha Regenwald 200 t Kohlenstoff gebunden sind. Beim Verbrenner dieser Menge entstehen 734 t Kohlendioxid (Faktor 3,67 anhand der molaren Masse). Das Bundesumweltamt gibt den CO2-Ausstoß der deutschen Landwirtschaft mit 63,6 Mio. t und die Landwirtschaftsfläche mit 18,1 Mio. ha an. Daraus leiten sich rund 3,5 t CO2/ha ab. Wird ein ha Produktionsfläche durch Stilllegung von Deutschland nach Brasilien verlagert und dort dann das Flächenäquivalent durch Brandrodung geschaffen, gehen 734 t CO2 in die Luft, also das 207-fache dessen, was eine ha Agrarfläche in Deutschland ausstößt. Das Biotop vor der eigenen Haustür kann also teuer erkauft sein.
EU-Kommission und Umweltpolitiker wissen, was Auslagerung bedeutet

Das Schreckgespenst für Klima und Biodiversität heißt Landnutzungsänderung, auf Englisch land use chance (luc). Sie tritt beispielsweise auf, wenn Wald in Agrarfläche umgewandelt wird. Davon gibt es auch eine indirekte Variante, auf Englisch indirect land use chance (iluc). Dieser Fall tritt auf, wenn es zu sogenannten Substitutionseffekten kommt, also etwa in Deutschland Fläche stillgelegt wird und die dann fehlenden Nahrungsmittel importiert werden. Dazu muss im Exportland Produktionsfläche geschaffen werden. Die größten Nettoexporteure der Welt sind Brasilien und Argentinien. Und wie dort Agrarfläche geschaffen wird, dürfte hinlänglich bekannt sein, durch Brandrodung. Damit hängen Produktionsstilllegung in Europa und die Brandrodung in Südamerika unmittelbar zusammen. Diesen Effekt beschreibt iluc.
Der Effekt ist der EU-Kommission und den nationalen Umweltministern durchaus geläufig. Er findet beispielsweise beim Anbau von Energiepflanzen Anwendung und bringt die Flächenkonkurrenz zwischen Energie- und Nahrungspflanzen zum Ausdruck. Flächen aus der Produktion zu nehmen oder den Anbau landwirtschaftlicher Kulturen zu extensivieren, steht genauso in Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion wie der Anbau von Energiepflanzen, könnte also jederzeit auch mit dem iluc-Faktor beaufschlagt werden. Das würde die Tragweite der jetzigen Vorschläge zum Ausdruck bringen und müsste aus Klimasicht eigentlich ihr Aus bedeuten.
Um nun den eigenen Frack nicht zu beschmutzen, fahren die EU-Kommission und die nationalen Umweltminister zweigleisig. Effekte durch indirekte Landnutzungsänderungen finden nur dann Berücksichtigung, wenn sie ins Konzept passen. So kann man den Saubermann spielen und der Welt sich als Vorbild dafür präsentieren, wie Ökonomie und Ökologie unter einen Hut zu bringen sind. Die Karlsruher Wissenschaftler bringen es mit folgender Formulierung auf den Punkt: „Die EU will dem Rest der Welt zeigen, wie man nachhaltig und wettbewerbsfähig sein kann.“ Für das Klima, so die Einschätzung der Forscher, ist das aber ein schlechtes Geschäft.