Trotz Green Deal und Farm-to-Fork-Strategie (Vom Hof auf den Tisch) sieht der Kieler Agrarökonom Prof. Christian Henning die Versorgungssicherheit mit Nahrungsmitteln in Europa nicht gefährdet.
In seiner viel beachteten Studie vor rund einem Jahr kam der Wissenschaftler zum Schluss, dass sich die Produktion für Getreide um 20 % verringern könne. Das gelte in etwa auch für andere Agrarprodukte wie Rind- und Schweinefleisch; außer bei der Milch, da seien es nur 6 %, so Henning.
Was passiert bei den Nahrungsmittelpreisen?
Gleichzeitig würde die EU bei Getreide zu einem Nettoimporteur werden. Die Folge: „Wir hätten einen Preisanstieg, aber die EU könnte trotz der veränderten Rahmenbedingung die entsprechenden Getreidemengen auf dem Weltmarkt einkaufen“, erklärt Henning in einem Interview mit dem Nachrichtendienst Agra-Europe. Das würde ein bisschen teurer werden, aber die Versorgungssicherheit wäre ohne Probleme gewährleistet.
Nach Hennings Meinung ist die Versorgungssicherheit in der EU auch unter den neuen Rahmenbedingungen wie die Folgen der Ukrainekrise, die zudem nur kurzfristig bestehen dürften, die Farm-to-Fork-Maßnahmen beziehungsweise der Green Deal, die ja längerfristig ausgelegt sind, niemals gefährdet.
Welche Alternativen sind aus Sicht des Wissenschaftlers besser?
Statt die Produktion auf Kosten von Umweltleistungen auszudehnen, hält es der Kieler Wissenschaftler für besser, zum Beispiel den Verbrauch von tierischen Produkten einzuschränken. „Wenn wir das täten, würden wir massiv zur Welternährung beitragen, weil die EU dann den Markt mit pflanzlichen Produkten buchstäblich überschwemmen könnte“, ist Henning sich sicher. Zudem würden die armen und unterernährten Menschen aus seiern Sicht natürlich nicht deutsches Rindfleisch kaufen, sondern pflanzliche Produkte.
Warum das Aussetzen der Pflichtbrache symbolisch ist?
Daher sieht Henning das Aussetzen der 4 %-igen Pflichtbrache im kommenden Jahr als eher „symbolischer Natur“. Der kurzfristige Effekt werde für die Versorgungssicherheit in der Gemeinschaft überhaupt keine Rolle spielen. Gegen die Maßnahme spreche zudem, dass der politische Schwung, der durch die Farm-to-Fork-Strategie entstanden sei, erst einmal gestoppt werde. Für ihn ist der Hunger in der Welt vor allem ein Verteilungs- als ein Versorgungsproblem. Er räumt aber im Interview ein, dass ein nicht gelöstes Verteilungsproblem durch Ausweiten der Produktion, abgeschwächt werden könne.
Was ist mit der Verlagerung der Klimaeffekte?
Henning warnt davor, Verlagerungseffekte im Zusammenhang mit Klimaschutzmaßnahmen überzubewerten. Im Fachjargon nennt man das „Leakage-Effekte“. Als Hauptargument gegen das Dramatisieren der Leakage-Effekte führt er an, dass es sich hier um ein zeitlich befristetes Phänomen handele, das mittelfristig in „dynamischen Anpassungsprozessen“ wieder verschwinden werde. Insbesondere durch das direkte Bepreisen von Ökosystemleistungen in der EU ließe sich technischer Fortschritt beschleunigen.
„Das ist aktuell bereits am technischen Entwicklungspotenzial in der Fleisch- und Milchproduktion zu beobachten“, so der Experte. In zehn oder zwölf Jahren, so Henning, wären die Produktionsumlenkungen so niedrig, dass „wir praktisch keine Leakage-Effekte mehr hätten“. Er stellt aber eine Bedingung: Die Politik muss Landwirten und dem Agrarsektor hinreichende wirtschaftliche Anreize geben, um technischen Fortschritt auch umzusetzen.