In den vergangenen vier Wochen haben sich die Kursentwicklungen an den weltweiten Börsen und den regionalen Märkten weiter beruhigt. Trotz hoher Kursbewegungen an Einzeltagen haben die Marktteilnehmer auf den Agrarmärkten gelernt, die Unsicherheit durch den Krieg und dessen Folgen in ihrem Tagesgeschäft zu berücksichtigen.
In Paris bewegte sich der Dezemberweizen zwischen 340 und 365 €/t, der Novembermais zwischen 325 und 345 €/t und der Raps zwischen 630 und 645 €/t. Die regionalen Märkte in Deutschland folgen abgeschwächt den Vorgaben der Pariser Börse. Dabei führt mittlerweile nicht jede Börsenbewegung zu einer Anpassung der Kassapreise. Viele Landwirte trennen sich nach und nach von Teilmengen des eingelagerten Getreides. Für Geschäftsabschlüsse werden dabei kurzfristige Preishochs genutzt. Die Verkaufsquote liegt mittlerweile zwischen 40 und 60 %. Die weitere Preisentwicklung an den Märkten wird neben dem Krieg durch die beginnende Rezession und durch die Angebotsentwicklung auf den Exportmärkten bestimmt.
Der Getreide-Deal
Ende November läuft die Vereinbarung zwischen Russland, der Ukraine, der Türkei und der UN über die ukrainischen Getreideexporte aus dem Schwarzen Meer aus. Über die Verlängerung wird bereits seit Wochen verhandelt. Während die türkischen Verhandlungsteilnehmer für die Verlängerung keine Hindernisse sehen, fühlt die russische Delegation ihre Belange zu wenig berücksichtigt.
Sie behauptet, dass Russland in Logistik, Zahlungsabwicklung und bei der Versicherung der Schiffe benachteiligt sei, und erwartet seitens der internationalen Gemeinschaft weitere Zugeständnisse für die Verlängerung. Auf der anderen Seite liegen nach ukrainischer Aussage 150 Schiffe fest, die darauf warten, beladen zu werden.
Laut dem ukrainischen Präsidenten Selenskyi wird die Abwicklung von 3 Mio. t Getreide künstlich verzögert. Aus diesem Grund müssten 10 Mio. Menschen auf Nahrung warten. An dieser Stelle wird sichtbar, dass von beiden Seiten mit dem Hunger der Welt Politik gemacht wird.
In den vergangenen Wochen haben die russischen Getreideexporte über das Schwarze Meer nach einem zögerlichen Start im Sommer an Fahrt aufgenommen. Nach Auskunft der russischen Beratung Sovecon wird für Oktober ein Anstieg der Weizenexporte gegenüber dem Vorjahresmonat um 1,1 Mio. t auf 4,4 Mio. t erwartet. Dies wären 12 % der Exportprognose des Internationalen Getreiderates (IGC) von insgesamt 36,6 Mio. t. Das USDA prognostiziert die Menge sogar auf 42 Mio. t.
Bei den Exportstatistiken stellt sich aktuell die Frage, in welcher Liste die Exporte aus den russisch besetzten ukrainischen Gebieten erscheinen. Unabhängig ob USDA- oder IGC-Statistik, Russland ist bereits seit einigen Jahren die Nummer 1 im Welthandel. Die EU-27 soll in diesem Jahr nach IGC-Prognose mit 36,4 Mio. t die Nummer 2 am Weltmarkt bleiben. Es folgen Australien mit 25 Mio. t, Kanada mit 24 Mio. t, USA mit 21 Mio. t und die Ukraine mit 13 Mio. t.
Die weltweite Abhängigkeit von der russischen Getreideproduktion wird beim Blick auf deren Anteil am Welthandel deutlich. Russland hat mit knapp 46 Mio. t einen Anteil von 11 % am Welthandel. Die Ukraine mit 32 Mio. t (Vj. 48 Mio. t) einen Anteil von 8 %. Diese Zahlen zeigen, dass eine Störung des Schiffsverkehrs im Schwarzen Meer verheerende Folgen für die Welternährung hat. Darüber hinaus benötigen beide Länder die Einnahmen aus dem Getreidehandel, um die wirtschaftliche Entwicklung im eigenen Land aufrecht zu erhalten.
Der IGC-Bericht vom 20. Oktober zeigt erstmals eine veränderte Verteilung der weltweiten Weizenvorräte auf. In den letzten Jahrzehnten waren die USA mit Ausnahme von China bei Getreide der größte Lagerhalter. Die USA hatten für das eigene Land aber auch für die weltweite Versorgung hohe strategische Vorräte gehalten. Dies hat sich bei Weizen geändert.
Nach der IGC-Prognose sollen durch die erneut schwache US-Weizenernte die Vorräte in diesem Jahr um weitere 3 Mio. t auf 15,5 Mio. t fallen. Dagegen wird für Russland durch die Rekordernte ein Anstieg der Weizenvorräte um 13 Mio. t auf 24,5 Mio. t prognostiziert. Russland ist damit vor den USA mit Abstand der größte Lagerhalter.
Der IGC sieht auch für die EU-27 einen Rückgang der Vorräte um 5 Mio. t auf knapp 12 Mio. t voraus. Nach dieser Prognose lagern 35 % der Vorräte der acht größten Exportländer in Russland.
Fehlende Reserven
Die USA werden in diesem Jahr neben den Weizenvorräten auch die Maisvorräte gegenüber dem Vorjahr um 5 Mio. t auf 30 Mio. t abbauen. Der IGC erwartet einen Rückgang der Maisproduktion um 30 Mio. t auf 353 Mio. t. Damit betragen die gesamten Getreidevorräte in den USA nur noch 47 Mio. t. Das Verhältnis Vorrat zu Verbrauch in den USA beträgt nur noch 13,7 %. Vor zwei Jahren waren es noch 23 %. Der Anteil der US-Vorräte an den weltweiten Reserven sinkt damit von 50 bis 60 % in der Vergangenheit auf ein Drittel.
In dieser Situation eines knappen Angebots leiden die US-Böden unter sehr niedrigen Niederschlägen. 50 % der Flächen sollen von der Trockenheit betroffen sein. Die Wasservorräte im Unterboden sind sehr stark zurückgegangen. Die Wasservorräte werden bei 65 % der Flächen als niedrig bis sehr niedrig eingestuft. Im Vorjahr, welches auch schon trocken war, waren es 45 %.
In den USA wird über die möglichen Niederschlagsmengen im Winter zur Auffüllung der Reserven diskutiert. Die Unsicherheit über die kommende Ernte ist bereits an der Börse in Chicago zu beobachten. Während in Paris der Kurs für den Septemberweizen mit 324 €/t um 18 €/t niedriger als der Dezemberweizen 22 gehandelt wird, ist es in den USA umgekehrt. Dort notiert der Septemberweizen 23 mit 324 $/t um 12 $/t höher als der Dezemberweizen 22 mit 312 $/t.
Warten auf Regen
Auch in anderen Teilen der Welt geht der Blick gen Himmel. Aktuell führen ausgetrocknete Böden in Argentinien zu weiteren Rücknahmen der dortigen Weizenernte, die mittlerweile nur noch auf 15 bis 16 Mio. t (Vj. 22,5 Mio. t) geschätzt wird.
Die argentinischen Analysten machen sich bereits Sorgen um die Maisproduktion, die gerade ausgesät wird. Gleichzeitig baut die EU-27 nach der Dürre in den Maisregionen ihre Vorräte ab. Laut IGC sollen die EU-Getreidevorräte zum 30. Juni 23 um 10 Mio. t auf 26 Mio. t fallen. Damit geht die EU-27 nur noch mit Übergangsvorräten in das Vermarktungsjahr 2023/24.
Die Frage, ob eine Rezession kommt oder nicht, wird mittlerweile nicht mehr gestellt. Es geht nur noch um das Ausmaß der Rezession. Es macht bereits der Begriff Rezflation die Runde. Bei einer Rezflation verstärkt die Preissteigerung den Abwärtstrend in der Wirtschaft. Im Gegensatz zu den USA, wo die Inflation durch eine hohe Nachfrage ausgelöst wurde, ist in Europa die Angebotsseite die Ursache der Inflation.
Die hohen Energiepreise und die steigenden Lebensmittelpreise führen zu dem Preisauftrieb. In der aktuellen Situation besteht die Befürchtung, dass die weltweite Nachfrage nach Agrarprodukten sinken könnte. Der IGC prognostiziert für das laufende Jahr einen Rückgang der Nachfrage nach Getreide ohne China um 24 Mio. t auf 1797 Mio. t. Die IGC-Analysten gehen davon aus, dass der Futterverbrauch um 25 Mio. t auf 769 Mio. t sinken wird und der industrielle Verbrauch um knapp 2 Mio. t auf 274 Mio. t.
Dagegen wird für den direkten menschlichen Konsum eine Zunahme um 2,5 Mio. t auf 646 Mio. t erwartet, da die Weltbevölkerung weiter wächst. Der Futterverbrauch sinkt dabei aus zwei Gründen: Zum einen sinkt durch die steigenden Energiepreise das verfügbare Einkommen, um Lebensmittel, insbesondere tierische Produkte, zu kaufen, und zum anderen kämpfen die Tierhalter mit den steigenden Preisen für Futtermittel. Weltweit bleibt ein Teil der Ställe leer. Der IGC prognostiziert dabei für die EU-27 einen Verbrauchsrückgang um 8,5 Mio. t auf 256 Mio. t. In der Fütterung wird ein Minus von 7 Mio. t und im industriellen Verbrauch ein Minus von 1,3 Mio. t erwartet.
Euroschwäche
Der Euro verlor seit Jahresbeginn gegenüber dem US-Dollar 16 % seines Wertes. Damit trifft die Energiekrise die europäischen Staaten härter als die auf der anderen Seite des Atlantiks. Hinzu kommt, dass der Preisauftrieb die amerikanische Wirtschaft durch die fehlende Abhängigkeit vom russischen Gas nur indirekt trifft. Der amerikanische Bürger macht sich keine Sorgen, das Wohnzimmer nicht heizen zu können.
Der schwache Euro verteuert neben der Energie alle Importgüter für die rohstoffarme EU-27. Die Vorteile eines schwachen Euros, der die Exporte erleichtert, kann die EU-Staatengemeinschaft aufgrund der schwächelnden Weltwirtschaft nur begrenzt nutzen. Es ist zu erwarten, dass die EU-Währung in den kommenden Monaten weiter unter Druck bleiben wird, da die US-Währungshüter angekündigt haben, die Zinsschraube weiter anzuziehen. Es steht bereits ein Zinssatz von 5 % im Raum.
Auch die EZB will die Zinsen weiter anheben. Allerdings hinkt sie der FED in den USA hinterher. Damit fließt weiter Geld aus dem EU-Raum ab. Für die Landwirtschaft bedeutet ein schwacher Euro eine steigende Wettbewerbsfähigkeit bei den Exporten aber auch einen Preisanstieg für Dünger und Energie.
Rückschlüsse für die Vermarktung
Nach der Rekordernte in Russland mit steigenden Vorräten bei gleichzeitigen Dürreschäden in den USA und der EU-27 ist die Welternährung stark von der russischen Produktion abhängig. Russland könnte zumindest in diesem Vermarktungsjahr die Welternährung sicherstellen.
Gleichzeitig ist das Schwarze Meer die wichtigste Exportroute für die Ukraine. Daher geht der Blick auch unabhängig vom Getreidedeal täglich auf die Schifffahrtsrouten des Schwarzen Meeres bis in das Mittelmeer. Störungen der Handelswege im Schwarzen Meer können immer schwerer durch die übrigen Exportländer ausgeglichen werden. Gleichzeitig lässt die schwächelnde Weltwirtschaft einen niedrigen weltweiten Verbrauch an Getreide und Ölsaaten erwarten.
Insbesondere bei tierischen Produkten ist mit einem Nachfragerückgang zu rechnen. Eine geringere Fleischnachfrage führt letztendlich zu einem Rückgang des Futtergetreideverbrauchs. Für die Landwirte in der EU-27 kommt noch hinzu, dass der schwächelnde Euro den Kauf von Dünger und Energie verteuert und damit die Produktionskosten erhöht. Die sehr hohe Unsicherheit lässt auch in den kommenden Monaten die Preise auf den Agrarmärkten stark schwanken. Die politischen Entscheidungen insbesondere von Putin kann keiner vorhersehen. Aufgrund der hohen Unsicherheit bleibt es bei der Empfehlung, die Vermarktung kontinuierlich fortzusetzen. Es besteht kein Anlass, alles auf einmal zu verkaufen. Weiterhin ist es ratsam, den Kauf von Dünger mit dem Verkauf von Getreide oder Raps zu verknüpfen, um das Liquiditätsrisiko zu begrenzen.