Der Wald ist eine Lebensgemeinschaft. Pflanzen, Pilze und Tiere teilen sich den gleichen Lebensraum. Wie viele Arten jedoch tatsächlich in einem konkreten Waldbestand leben, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Neben der Baumartenpalette selbst spielen insbesondere sogenannte Habitatbäume eine zentrale Rolle. Darunter sind lebende oder auch abgestorbene Bäume zu verstehen, die ökologische Nischen (auch Kleinlebensräume oder Mikrohabitate genannt) aufweisen.
Beispielsweise Baumhöhlen, Stammverletzungen oder Totholzäste sind für die Artenvielfalt von besonderer Bedeutung, da spezialisierte Arten oft an solche Strukturen eng gebunden sind. Um die Artenvielfalt in Wäldern zu sichern oder zu erhöhen, ist der Blick auf diese „Schlüsselstrukturen“ besonders wichtig.
Den Wert des „Schlechten“ erkennen

Ungenutzte alte Wälder zeichnen sich zumeist durch eine Vielzahl von Bäumen aus, die im Laufe der Jahrzehnte von Wetterereignissen, Wunden und Störungen gezeichnet worden sind. Die so entstehenden Mikrohabitate bleiben durch die fehlende Nutzung nicht selten über viele Jahre und Jahrzehnte in großer Anzahl erhalten – was sich positiv auf die Artenvielfalt und Zusammensetzung solcher Wälder auswirkt.
In Wirtschaftswäldern hingegen lag der Fokus lange vorrangig darauf, wertvolles Holz zu produzieren und durch Förderung der besten Stämme eine stetige Wertsteigerung zu erhalten. Damit verbunden war meist die Entnahme von Stämmen mit Fehlern, Verletzungen oder anderen qualitätsmindernden Merkmalen. Was unter ökonomischen Gesichtspunkten durchaus zum Ziel führt, erwies sich allerdings als negativ für die Artenvielfalt. Zahlreiche neue Habitatbäume und damit wertvolle Lebensräume entstanden durch diese Bewirtschaftungsweise zumeist nicht.

Nicht zuletzt durch die Erkenntnisse aus ungenutzten Wäldern wie den bayerischen Naturwaldreservaten weiß man heute den Wert des vermeintlich „Schlechten“ besser zu schätzen. Dem Erhalt von Habitatbäumen wird eine immer größere Bedeutung beigemessen. Dies ist in den meisten Fällen – unabhängig von der wirtschaftlichen Ausrichtung des Waldbestandes – zumindest in Feldern zwischen den „Auswahlbäumen“ oder an Bestandesrändern – auch gut möglich. Für Waldbewirtschafter, die den Natur- und Artenschutz integrierend berücksichtigen, ist es allerdings eine wichtige Voraussetzung, dass sie die wertgebenden ökologischen Merkmale kennen – und auch erkennen.
Wer einmal die Habitatstrukturen und ihren überragenden Wert für die verschiedenen Arten wahrgenommen hat, wird sie nicht mehr vergessen. Das versehentliche Fällen ökologisch wertvoller Bäume können Waldbesitzer somit verhindern und die Biodiversität im eigenen Wald erhalten sowie über die Jahre sogar erhöhen.
Habitat erkannt,Gefahr gebannt
- Höhlen:Gut ein Drittel der Waldvögel nistet in Baumhöhlen unterschiedlicher Größe. Abgesehen von den sogenannten Faulhöhlen sind bei ihrer Entstehung ganz wesentlich die verschiedenen Spechte als „Zimmerer“ beteiligt. Der winzige Kleinspecht – der kaum größer ist als ein Spatz – begnügt sich beispielsweise mit morschem Holz an Totästen von Weichlaubhölzern, deren wirtschaftlicher Wert verschwindend gering ist.
Schwarzspechte legen dagegen ihre Höhlen oft im astfreien Stammbereich starker Buchen an. Jedoch haben Braun- oder Weißfäuleerreger in der Regel bereits Vorarbeit geleistet, wodurch den Spechten der Bau der Höhlen erleichtert wird. Eine Wertminderung des Holzes hat also zuvor schon – für den Bewirtschafter meist unsichtbar – stattgefunden.
Die Entstehung einer solchen Höhle dauert entsprechend lange. Ist sie allerdings erst einmal angelegt, wird sie von zahlreichen Nachnutzern wie etwa Nagetieren oder Insekten über viele Jahre bewohnt. Selbst die Hinterlassenschaften wie Futterreste und Kot werden nach dem Auszug der „Erstmieter“ wiederum von vielen Wirbellosen genutzt.
Aber auch topfförmige Baumhöhlungen, in denen sich Wasser und sich zersetzendes Laub sammelt, stellen Energiequellen für spezialisierte Insektenarten, aber auch Verstecke für Amphibien dar. Diese Wassertöpfe oder Mikroböden genannten Besonderheiten entstehen bei Zwiesel-Gabelungen oder auch am Stammfuß durch ausgefaulte, früh entfernte Seitenstämme. - Stammverletzungen und Stammbrüche: Freiliegendes Splintholz, das durch Fällung, Rückung oder auch durch Wettereinflüsse entstanden ist, wird in den fortschreitenden Zersetzungsstadien – sofern es nicht überwallt wird – von Pilzen und Insekten besiedelt. Stammbrüche, die meist großflächige Freilegungen des Holzkörpers zur Folge haben, weisen weitere interessante Strukturen wie Verstecke oder Nester auf. Abgebrochene Starkäste bilden Totholz am lebenden Baum, das von Spechten gerne als Nahrungsquelle angenommen wird. Ökologisch bedeutsam wird der Astabbruch v. a. ab einem Durchmesser von mehr als 20 cm und einer Länge von mindestens einem halben Meter.
- Risse, Blitzrinnen, Rindentaschen:Spalten und Risse können durch Spannungen oder auch Blitze entstehen. Je nach Größe und Ausprägung werden sie von kleineren Tieren wie Spinnen oder Schnecken besiedelt, erreichen aber auch schnell eine Größe, um als Spaltenquartier für Fledermäuse geeignet zu sein. Rindenteile, die vom Splintholz abstehen und eine Rindentasche bilden, werden gerne von Fledermausarten wie der Mopsfledermaus genutzt. In den nach oben offenen Taschen bildet sich mit der Zeit organische Substanz, die von vielen Gliederfüßern wie Spinnen, Tausendfüßlern und Insekten besiedelt wird. Diese stellen wiederum eine wichtige Nahrungsquelle für Vögel dar; die Nahrungskette setzt sich fort.
- Kronentotholz: Auch an lebenden Bäumen sterben immer wieder Äste und Kronenteile ab. Besonnte Totäste unterscheiden sich in der Besiedelung durch Insekten ganz wesentlich von Ästen oder Stammteilen, die am kühlen, oft feuchten Boden liegen. Sie ziehen wärmeliebende Arten magisch an, die im Wald nur an besonnten Stellen ihre Nischen finden. Zu dieser Gruppe gehören einige der schönsten, aber auch geheimnisvollsten Schmetterlingsarten. Manche von ihnen wie der Blaue-Eichen-Zipfelfalter verbringen einen großen Teil ihres Lebens gut versteckt hoch oben in den Baumkronen. Die Insekten, die am und im Kronentotholz leben, sind u. a. wichtige Nahrung für Spechte wie den in Eichenwäldern lebenden Mittelspecht, der insbesondere im Winter auf diese Nahrung angewiesen ist.
- Pilzfruchtkörper am Stamm:Die Fruchtkörper von mehrjährigen Porlingen, wie dem bei Buche häufigen Zunderschwamm, weisen auf Holzfäule im Inneren des Stammes hin. Spechte nutzen zielgerichtet diese verborgenen weichen Holzstrukturen und meißeln ihre Höhlen unterhalb des Pilzes. Die Höhlen bekommen dadurch ein schützendes Dach. Insgesamt sind es über 400 Arten, überwiegend aus dem Stamm der Gliederfüßer, die vom Zunderschwamm profitieren.
- Moose, Flechten und Lianen: Eine Besonderheit stellen Bäume mit einem Bewuchs an Stamm und Ästen dar. In Gebirgswäldern, aber auch in manchen Schluchtwäldern und Kaltluftsenken werden viele Bäume häufig von zahlreichen epiphytischen Moosen, Farnen und vor allem Flechten besiedelt. Dadurch entstehen wertvolle Kleinlebensräume. Moosreiche Äste sind beispielsweise das ganz spezielle Wuchssubstrat von Rudolphs Trompetenmoos, einer seltenen FFH-Art. Auch Kletterpflanzen wie Efeu sind von hoher ökologischer Bedeutung, da sie z. B. als Brut- und Wohnraum oder Nahrungsquelle genutzt werden. So bieten die Blüten des Efeus vergleichsweise spät im Jahr zahlreichen Insekten eine wertvolle Nektarquelle und seine Früchte nähren Vögel im Winter.
- Nester und Horste:Verglichen mit anderen Habitatstrukturen sind Horste von Großvögeln, aber auch kleinere Nester, gerade im unbelaubten Zustand gut zu erkennen. Für den Schutz der Großvögel (z. B. Schwarzstorch oder Greifvögel) ist einerseits der Erhalt der Horstbäume samt ihres Umfeldes wichtig. Andererseits darf die Brut während der sensiblen Zeit bis zum Flüggewerden der Jungvögel nicht gestört werden. Die forstwirtschaftlichen Aktivitäten sollten in diesen Phasen rund um die bewohnten Horste ruhen. Neben den Vogelnestern dürfen aber auch beispielsweise Ameisennester am Stammfuß oder Nester wildlebender Bienen nicht vergessen werden.
- Begehrte Baumarten:Grundsätzlich kann sich jedes Mikrohabitat – unabhängig von der Baumart – zu einer ökologisch wertvollen Struktur entwickeln. Nichtsdestotrotz gibt es Baumarten, die als Habitatbäume eine besondere Rolle spielen, da sie entweder sehr viele Kleinlebensräume aufweisen oder wertvolle Strukturen schon vergleichsweise frühzeitig, also bei geringem Baumalter, ausbilden. Besonders hervorzuheben ist hier die Rolle der Eichen als Brut-, Wohn- und Nahrungshabitat. So führen die raue Borke, die lichtdurchlässige Krone und das hohe Angebot an Totholz unterschiedlichster Zersetzungsstadien zu einer sehr hohen Artenvielfalt an Gliederfüßlern – diese wiederum werden von vielen Tieren als Nahrungsquelle genutzt. Im langlebigen Holz der Eichen bleiben Höhlen und Spaltenquartiere lange erhalten, was sie als Lebensraum besonders wertvoll macht.
Eine wichtige Rolle spielen auch Pionierbaumarten wie Birken, Pappeln, Weiden oder Vogelbeeren. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese Bäume bis zur Altbestandsphase überlebt haben, da sie dann vergleichsweise häufig wertvolle Strukturen aufweisen. Dies ist einer der Gründe, warum an Birken und Weiden rund 180 Schmetterlingsarten und an Pappeln circa 160 Arten leben. Übertroffen werden diese raschwüchsigen Baumarten, die schnell Zerfallsanzeichen ausbilden, dabei nur von den Eichenarten, an denen allein 180 Großschmetterlingsarten bekannt sind.
Biodiversitätsforschung bestätigt hohe Bedeutung

Inwieweit Mikrohabitate die Artenvielfalt positiv beeinflussen, ist häufig Gegenstand aktueller Forschungsprojekte. Beispielsweise das LWF-Forschungsvorhaben „Auswirkungen des Waldumbaus auf Waldstruktur und Diversität“ führte auf 54 Probeflächen im Ebersberger Forst neben Arterfassungen gezielt auch Mikrohabitatkartierungen durch. Dabei zeigte sich, dass mit einer zunehmenden Anzahl an Mikrohabitatbäumen auf den Flächen auch die Vielfalt der erfassten Arten (hier Pilze, Laufkäfer, flugaktive Insekten, Vögel, Gefäßpflanzen/Moose) tendenziell ansteigt. Das untermauert die hohe Bedeutung von Habitatbäumen für die Artenvielfalt im Wald.
Je mehr die Bewirtschafter also auch dem vermeintlich Schlechten einen Wert beimessen, desto größer ist der aktive Beitrag für die Artenvielfalt in unseren Wäldern. Weniger „Entrümpeln“ kann da oft „mehr“ sein, wenn über die Jahre eine ausreichende Zahl an Biotopbäumen entstehen soll. Schon mit einem bescheidenen Nutzungsverzicht kann so jeder Waldbesitzer einen Beitrag leisten, die Artenvielfalt in unseren Wäldern zu sichern oder zu erhöhen. Hierfür sind auch Fördermöglichkeiten vorgesehen. Informationen zu diesem Thema erhalten Waldbesitzer bei ihrer zuständigen Forstdienststelle der Bayerischen Forstverwaltung.