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Blick über die Landesgrenze hinaus

Wie der Wolf ein Dorf verändert

Und täglich grüßt der Wolf: In Hornel gab es Ende Januar in der Ortschaft täglich Wolfssichtungen.Foto: Symbolbild, Imago Stock
Josef Berchtold
Josef Berchtold
am Dienstag, 14.02.2023 - 13:24

In Hessen geht der Wolf um: Das Dorf Hornel und ein Landwirt berichten von Rissen und ihrer Angst. Wie sie sich wehren und was die Politik dagegen unternimmt.

Diese Nacht wird Tobias Wagner nie vergessen. Vier Wölfe jagten seine hochträchtige Zebu-Mutterkuh auf der Weide. In letzter Sekunde raste Wagner mit seinem Pick-Up auf das Wolfsrudel zu, um sein Rind zu retten. Das ganze geschah im November im hessischen Hornel, einem 120-Seelen-Ort rund 60 Kilometer südöstlich von Kassel. Und es war nicht das letzte Wolfsgeschehen in dem Dorf.

Tägliche Wolfssichtungen im Dorf

„Hornel ist in Angst und Schrecken. Inzwischen täglich begegnen die Einwohner, auch Kinder, Wölfen“, meldet die Hessische-Niedersächsische Allgemeine (HNA) in ihrer Ausgabe vom 25. Januar. Die besorgten Eltern lassen ihre Eltern nicht mehr allein im Dorf spielen und fahren sie zur Schule. Ende Januar sei an jedem Tag ein durch den Ort ziehender Wolf beobachtet worden. Anette Backhaus begegnete den Wolf gegen Mitternacht im Dorf – er stand ihr keine drei Meter gegenüber, wie sie in der Hessenschau erzählt.

Auch Kinder hatten schon Wolfsbegegnungen: Der neunjährige Emilian räumte am späten Nachmittag gerade seinen Schlitten in den Schuppen neben dem Haus, als er draußen ein Geräusch hört. Er ging nach draußen und sah im Abstand von 10 bis 15 Meter einen Wolf, der ihn erst ansah und dann von dannen zog. „Wir wollen den Kindern keine Angst machen, sind aber schon in Sorge“, bringt es seine Mutter Alexandra Möller im Gespräch mit dem Bayerischen Landwirtschaftlichen Wochenblatt auf den Punkt. Sie begleitet Emilian und seine zwei Jahre jüngere Schwester jetzt jeden Morgen zu Fuß zur Bushaltestelle. Allein will sie die Kinder nicht mehr gehen lassen. Viele Eltern fahren ihre Kinder sogar mit dem Auto bis nach Sontra in die Schule. „Die Kinder allein in den Wald zu lassen, daran ist hier nicht mehr zu denken“, sagt sie. Dabei ist die ländliche Idylle und die Natur genau das, was Alexandra Möller an ihrer Heimat so schätzt. „Wir leben doch auf dem Land, damit wir die Kinder draußen laufen lassen können“, erklärt sie. Mittlerweile aber lassen die Eltern in Hornel ihre Kinder kaum noch im Freien spielen, sobald die Dämmerung anbricht.

Wolf schränkt Freizeitverhalten in der Region ein

Auch das Freizeitverhalten der Menschen ändert sich: „Viele Jogger haben ihre Laufstrecken verändert und nutzen lieber die etwas belebteren Fahrradwege als den Wald“, erklärt Alexandra Möller. Einige gehen auch lieber in Kleingruppen anstatt allein, da sich sicherer fühlen.

Alle sind vorsichtig geworden. Und das nicht nur in Hornel, sondern auch in den Nachbarorten. Nach den vermehrten Wolfssichtungen und Wolfsrissen in den vergangenen Wochen wurden die Waldkindergärten in Waldkappel und Bischhausen geschlossen.

Vier Wölfe jagen eine hochträchtige Kuh

Tobias-Wagner-Landwirt-Hessen-Wolf

„Wir haben jeden Tag Wolfssichtungen am oder im Dorf“, bestätigt der Landwirt und Lohnunternehmer Tobias Wagner gegenüber dem Wochenblatt. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Svenja Böttner besitzt Wagner eine 40-köpfige Zwergzebu-Herde und hatte im November dieses einschneidende Erlebnis: „Wir hatten vier Kühe, einen Bullen und vier Kälber auf der Weide. Vier Wölfe sprangen über oder durch den 1,60 m hohen Zaun und jagten eine hochträchtige Mutterkuh“, beschreibt Wagner diese unheimliche Nacht. Das war gegen 23 Uhr.

Svenja Böttner bemerkte den Vorfall und versuchte erst die Wölfe durch Zurufen zu verjagen. Ohne Erfolg. Svenja rannte zurück und holte Hilfe. Tobias Wagner raste darauf mit seinem 250 PS-starken Ford Ranger auf die Weide, überfuhr einen Zaun und nur durch nahes Auffahren, Hupen und Betätigen der Lichthupe konnte er die Wölfe von der Mutterkuh abbringen und verjagen.

Noch die halbe Nacht hielten die Landwirte auf der Weide Wache und am nächsten Tag holten sie einen Teil ihrer Herde, darunter die völlig verängstigte Mutterkuh in den Stall. Künftig werden Tobias und Svenja die Weidehaltung stark einschränken. „Ich weiß nicht, ob wir überhaupt noch Tiere auf die Weide tun. Die Kühe mit ihren Kälbern definitiv nicht mehr, vielleicht noch die Bullen“, sagt Tobias Wagner. Er konnte seine Kuh noch in letzter Sekunde retten. Schafsrisse hingegen würden in der Region immer wieder gemeldet, sagt er.

Immer weniger Rehwild und keine Unterstützung aus der Politik

Auch der Wildbestand habe sich stark reduziert, erklärt Wagner. „Wir hatten die ersten Wolfssichtungen im Jahr 2019“, erzählt der Landwirt. Seitdem sei der Rehwildbestand nach Angaben örtlicher Jäger um drei Viertel zurückgegangen.

Wie aber reagiert die Politik auf die Wolfsproblematik? Mehrere Betroffene bringen gegenüber dem Wochenblatt zum Ausdruck, dass die Lokalpolitiker in der Gemeinde und im Landkreis Verständnis haben und versuchen, Änderungen herbeizuführen. Bei der schwarz-grünen Landesregierung in Wiesbaden würden sie aber bislang weitgehend auf Granit beißen.

Der Bürgermeister schlägt Alarm

Diesen Eindruck bestätigt auch Thomas Eckhardt, der Bürgermeister von Sontra und damit von Hornel. Man sei mit allen Stellen im Dialog, mit dem Landkreis ebenso wie mit dem Wolfzentrum Hessen, erklärt Eckhardt im Gespräch mit dem Wochenblatt. Es gebe Infoveranstaltungen über die Wolfssituation und wie man damit umgehen kann. Aber das ist zu wenig, meint Eckhardt. „Wir müssen auch über Möglichkeiten der Entnahme sprechen“, sagt das Gemeindeoberhaupt. Auch sein Eindruck ist, dass der Ernst der Lage bei der Hessischen Landesregierung noch nicht ganz angekommen ist. „Wir haben Wolfsrudel und es wird immer mehr Konflikte geben“, sagt Eckhardt. Die Auswirkungen sieht er schon heute: Viele trauen sich nicht mehr alleine in den Wald oder Nachts auf die Straße. Vor einigen Jahren war das noch kein Problem. „Der Wolf schränkt schon jetzt den Radius der Menschen ein“, sagt der Bürgermeister.

Auch er unterstützt die Infoveranstaltungen, die aber dürften nicht zu einer Verharmlosung beitragen. Auch mit Weidezäunen und Herdenschutzhunden allein werde man das Problem nicht lösen. „Wir hoffen, dass unsere Sorgen oben ankommen“, sagt er in Richtung Wiesbaden.

Wie viele Wölfe gibt es in der hessischen Region?

Wie viele Wölfe es in der Region gibt, darüber kann nur spekuliert werden. Priska Hinz, die grüne Umweltministerin Hessens, nannte im Landtag vor kurzem eine Zahl von 25 Wölfen in ganz Hessen. „Für uns heißt Verantwortungspolitik, Ängste zu nehmen, Betroffene zu unterstützen statt unbegründete Ängste zu schüren“, sagte sie. Viele Betroffene halten das für eine Verharmlosung. „Laut unserer Ministerin sind wir in Hessen noch Wolferwartungsland“, sagt Wagner ungläubig.

Dass es sehr schwer ist, an verlässliche Zahlen zu kommen, bestätigt Thomas Apel vom „Wolfmonitor Infonetzwerk.“ „Der Wolf ist ein geschickter Jäger. Er legt Wert darauf, erst seine Beute zu sehen, selbst aber unerkannt zu bleiben“, sagt der Experte. Sicher ist er sich allerdings, dass die von der Landesregierung genannte Zahl von 25 Wölfen in ganz Hessen deutlich zu niedrig ist. Ob es nun 100 Wölfe sind oder etwas mehr oder weniger, könne niemand sagen. Die offiziellen Zahlen würden vorwiegend auf C1-Nachweise, also den Gennachweis oder ein eindeutiges Foto basieren, und hier werde nur ein Teil der tatsächlichen Population erfasst. "Aus dem Wildtiermonitoring weiß man, dass man nur einen kleinen Anteil tatsächlich nachweisen kann", erklärt er. Die Dunkelziffer sei hoch.

„Vor einigen Jahren hörten wir nur aus Niedersachsen und Brandenburg von dieser starken Wolfsproblematik. Jetzt haben wir sie auch in Hessen. Der Wolf reißt Schafe und Rehwild, bedroht unser Weidevieh und verunsichert die Bevölkerung“, sagt Tobias Wagner. Dass der Wolf seinen Weg fortsetzt, da ist sich Wagner sicher. Sofern die Politik nicht endlich eingreife.

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