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Tierwohl

Wann geht's den Tieren gut?

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Patrizia Schallert
am Dienstag, 14.06.2022 - 06:58

Der „FarmLife-Welfare-Index“ ist eine Methode, mit der sich das Tierwohl-Potenzial in der Milchviehhaltung bestimmen lässt

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Irdning-Donnersbachtal/Stm. - Die Gesellschaft erwartet von den Nutztierhaltern einen guten Umgang mit den Tieren, die ihnen anvertraut sind. Woran es fehlt, sind tragfähige wissenschaftliche Untersuchungen, woran sich das Wohlbefinden der Tiere festmachen lässt. Eine Methode ist der „FarmLife-Welfare-Index“, ein Beurteilungssystem, das das Tierwohl-Potenzial in der Milchviehhaltung aufzeigt. Dr. Elfriede Ofner-Schröck, Leiterin der Abteilung „Artgemäße Tierhaltung, Tierschutz und Herdenmanagement“ an der HBLFA Raumberg-Gumpenstein, erklärte das System auf der Nutztierschutz-Tagung. Dr. Claudia Schneider vom Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL Schweiz) berichtete über Praxiserfahrungen zur artgerechten Kälbermast in der Schweiz.

Ersten Errgebnisse stehen fest

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Ofner-Schröck präsentierte die ersten Ergebnisse aus dem praktischen Einsatz des „FarmLife-Welfare-Index“ auf österreichischen Milchviehbetrieben. Der an der HBLFA Raumberg-Gumpenstein entwickelte Index ist ein Web-Tool zur Tierwohl-Potenzialbewertung auf landwirtschaftlichen Betrieben und in das gesamtbetriebliche Betriebsmanagement-Tool „FarmLife“ (Bewertung der Ökoeffizienz in der Landwirtschaft) eingebettet. Das Web-Tool einschließlich Begleithandbuch ist für jeden Betrieb, für Berater, Schulen oder Zertifizierungsstellen unter www.farmlife.at kostenlos zugänglich.

„Das Beurteilungssystem zeichnet sich durch seine praxistaugliche Anwendung aus, bei der das Tier im Mittelpunkt steht“, sagte Ofner-Schröck. Zugleich soll das Ergebnis Rückschlüsse auf die Einflussfaktoren zulassen und dem Landwirt Empfehlungen zur Verbesserung möglicher Haltungs- oder Managementmängel an die Hand geben. Die Dateneingabe kann im Stall am Tablet über einen herkömmlichen Webbrowser erfolgen.

Drei Teilbereiche werden betrachtet

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Der FarmLife-Welfare-Index umfasst drei Teilbereiche: „Haltungsbedingungen“, „Tierbetreuung und Management“ und „Tierwohl“. In diese drei Teilbereiche fließt die Bewertung von 18 Indikatorengruppen, bestehend aus 43 Einzelindikatoren, ein. Die Beurteilung erfolgt online über die gemeinsame technische Plattform www.farmlife.at. Unter dem Bereich „Haltungsbedingungen“ können folgende Daten erhoben werden:

  • Qualität des Fress- und Liegeplatzes, der Bewegungsflächen einschließlich Rutschsicherheit
  • Flächenangebot und Nutzungsdauer von Stall, Auslauf und Weide
  • Wasserversorgung
  • Stallklima (Licht, Luft und Lärm).

Zum Bereich „Tierbetreuung und Management“ zählen:

  • Technischer Zustand der Stalleinrichtung
  • Sauberkeit im Stall
  • Herdenstabilität
  • Tiergesundheit
  • Pflege und Gesundheitsmanagement
  • Mensch-Tier-Beziehung, beispielsweise die einzeltierbezogene Beurteilung der Ausweichdistanz

Kriterien für das Tierwohl

Der „Tierwohl“-Bereich gliedert sich in:

  • Sauberkeit der Tiere
  • Hautschäden und Gelenksveränderungen
  • Haut- und Haarkleid
  • Klauenzustand
  • Lahmheit
  • Ernährungszustand.

In zwei Projekten wurde das FarmLife-Welfare-Tool in den vergangenen zwei Jahren auf zahlreichen österreichischen Milchviehbetrieben angewendet. Bei insgesamt 375 Betriebserhebungen ergaben sich Gesamt-Indexwerte zwischen 46 und 97 Punkten. „Das zeigt, dass das Management die Betriebsergebnisse unabhängig vom Haltungssystem sehr stark beeinflusst“, sagte Ofner-Schröck. Daraus lässt sich ableiten, dass nur durch die Berücksichtigung von Managementfaktoren wie fachgerechte Klauenpflege oder bedarfsgerechte Fütterung und durch die Einbeziehung von tierbezogenen Indikatoren wie Lahmheit oder Verletzungen das Tierwohl bzw. das Tierwohl-Potenzial auf Betrieben realistisch abgebildet werden kann.

Postiver Einfluss der Weidehaltung

Der positive Einfluss der Weidehaltung auf Indikatoren des Tierwohls und der Tiergesundheit konnte bereits in einer Reihe von Untersuchungen verdeutlicht werden. Die ersten Projektergebnisse weisen ebenfalls in diese Richtung und sollen durch weiterführende Untersuchungen belegt werden.

Dr. Claudia Schneider, Futtermittelbeauftragte von Bio Suisse und Demeter und Mitarbeiterin des Departements für Beratung, Bildung und Kommunikation am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL), war online aus der Schweiz zugeschaltet. Sie berichtete über Praxiserfahrungen zur artgerechten Kälbermast in der Schweiz. Der Selbstversorgungsgrad bei Kalbfleisch beläuft sich in der Eidgenossenschaft auf 97,2 %. Das heißt, dass alle nicht zur Remontierung genutzten Kälber aus der Milchviehhaltung gemästet werden. Basis der Produktion von Kalbfleisch sind vor allem die bäuerliche Kälbermast und die Integrationsmast (Lohnmast).

Auch wenn die Krankheitsprävalenz je nach System unterschiedlich hoch ist, wird, so Schneider, in der Kälbermast eine große Menge Antibiotika verbraucht (rund 25 % der in der Nutztierhaltung eingesetzten Menge). „Die Kälber werden überdurchschnittlich oft krank.“ Das deute darauf hin, dass sie nicht ihren Bedürfnissen entsprechend gehalten werden. Aber welche Haltung ist artgerecht und entspricht den Bedürfnissen der Kälber? Eine Antwort geben Verhaltensbeobachtungen in der natürlichen Umgebung der Tiere.

Natürliches Verhalten bei und nach der Geburt

Natürliches Verhalten bei und nach der Geburt in freier Wildbahn:

  • Die Geburt erfolgt abseits der Herde an einem geschützten Ort.
  • Das Kalb steht nach 10 bis 30 Minuten auf und trinkt nach 45 bis 95 Minuten zum ersten Mal.
  • Die Prägung an die Mutter findet vor allem in den ersten 24 Stunden statt. Nach drei Tagen erkennen sich Kalb und Mutter an der Stimme und am Geruch, nicht unbedingt am Aussehen.
  • Als Abliegejunges bleibt das Kalb vorerst am Ablageort. Die Kuh geht zur Herde zurück und sucht das versteckte Kalb immer wieder auf.
  • Weiterer Aufbau der Bindung zur Mutter, oft über die Geburt des nächsten Tieres hinaus bestehend.
  • Die Mutterkuh säugt ihr Kalb täglich sechs- bis achtmal rund sieben Minuten lang.

„Daraus lässt sich ableiten, dass für eine artgerechte Kälberhaltung eine Abkalbebox, ein langer Kontakt zur Mutter und das Säugen des Kalbes an ihrem Euter sehr wichtig sind“, erklärte Schneider.

Gruppenhaltung kommt der natürlichen Haltung entgegen

Während der Säugephase nimmt die Kuh das Kalb in den Herdenverband mit und säugt es vier- bis fünfmal täglich rund zehn Minuten lang. „Die Gruppenhaltung kommt also dem natürlichen Verhalten entgegen.“ Kälber haben einen starken Erkundungstrieb und ein ausgeprägtes Spielverhalten mit hoher Laufaktivität.

Deshalb benötigen sie viel Platz auf ihren Liegeflächen, einen trittsicheren Boden und eine reizvolle Umwelt. Natürlich sei das auf einer Weide besser umsetzbar als im Stall. Ab dem fünften Lebensmonat läuft das Kalb in der Herde mit. Nach acht bis elf Monaten setzt die Mutter das Kalb durch Wegstoßen von der Milch ab.

Weil die Lebensbedingungen in der Nutztierhaltung anders sind als in freier Wildbahn, sei es wichtig, die Anatomie und Physiologie eines Kalbes zu kennen, um seine Bedürfnisse zu verstehen. Das Kalb kommt ohne Immunabwehr auf die Welt und erhält mit dem Kolostrum der Mutter Antikörper. Weil der Darm des Kalbes nach 24 Stunden die Fähigkeit verliert, Immunglobuline aufzunehmen, sollte die Kolostrum-Gabe zügig nach der Geburt erfolgen. Nach zehn bis zwölf Wochen ist das Immunsystem des Kalbes gut entwickelt. Allerdings unterdrücken Stressfaktoren wie abrupter Platz- oder Futterwechsel den Aufbau des körpereigenen Abwehrsystems.

Voraussetzungen des Kalbes bei der Geburt

Das Kalb kommt mit einem gut entwickelten Labmagen und nur in Ansätzen vorhandenen Vormägen auf die Welt. Durch die Aufnahme von Raufutter entwickeln sich die Vormägen ab der zweiten Lebenswoche. Deshalb sollte Raufutter zur freien Verfügung vorgelegt werden. Aus den Punkten, die sich für die artgemäße Haltung aus dem Verhalten, der Physiologie und Anatomie der Kälber ableiten, ergeben sich einige zentrale Aspekte: Haltung in einer reizreichen, genügend großen Umgebung zusammen mit anderen Kälbern, der Kontakt zur Mutter und anderen erwachsenen Tieren und die Fütterung mit Milch und Raufutter.

„Das führt uns zur kuhgebundenen Kälbermast mit Weidegang, die diese Anforderungen an die artgemäße Haltung am besten erfüllen kann“, stellte Schneider fest. Im FiBL-Projekt „Kälbermast an Müttern und Ammen“ in Zusammenarbeit mit dem Coop Fonds für Nachhaltigkeit und Bio Suisse wurden Betriebe besucht, die ihre Kälber an der Kuh mästen, ihre Erfahrungen gesammelt und die Schlachtergebnisse ausgewertet. Während die Mast an der Mutter immer auf dem Geburtsbetrieb stattfindet, gab es bei der Mast an Ammen zwei Arten von Milchviehbetrieben:

  • Einsatz eines Teils der Milchkühe als Ammen für die Versorgung der Kälber,
  • reine Ammenbetriebe, die nicht mehr melken und die Milch der Kühe von den eigenen und zugekauften Kälbern trinken lassen.

Kontaktzeiten von Kuh und Kalb

Die Kontaktzeiten von Kühen und Kälbern wurden auf fast allen Betrieben geregelt, um die Milchmenge für die unterschiedlich großen Kälber zu steuern, jedoch in unterschiedlicher Art und Weise. „Eine klare Aussage der Betriebsleiter war, dass die Beobachtung der Tiere noch wichtiger wird“, sagte Schneider. Werden die Kühe, meist die Mütter, nebst dem Säugen noch gemolken, könne die Milchabgabe gestört sein. Die meisten Betriebe, die mit Ammen arbeiten, gaben an, dass sich Kühe einer Milch- oder Zweinutzungsrasse besser bewährt hätten als Fleischrassen, weil sie zum einen genügend Milch geben und zum anderen fremde Kälber besser akzeptieren. „Grundsätzlich ist es aber eine tierindividuelle Eigenschaft, wie gern eine Kuh Amme ist.“ Für den Zukauf von Kälbern haben sich die Mastbetriebe ein Netz von Partnerbetrieben aufgebaut, um Keimeinschleppungen zu minimieren und Absprachen zu ermöglichen. Weil die Zitzen bei der kuhgebundenen Kälbermast mehr beansprucht werden, gewinnt die Zitzenpflege an Bedeutung.

Mastergebnisse noch nicht befriedigend

„Die Mastergebnisse bei der kuhgebundenen Aufzucht waren nicht zufriedenstellend“, sagte Schneider. „Wir waren nicht dort, wo wir gerne gewesen wären.“ Die Qualität der Schlachtkörper hing vor allem von der Genetik der Kälber ab.

Die Auswertungen der Schlachtergebnisse der über 200 Projektkälber nach fünf bis sechs Monaten kuhgebundener Mast zeigten, dass Milchrassekälber (weniger als 50 % Mastgenetik) die schlechtesten Mastergebnisse erzielten. Kreuzungskälber (50 bis 99 % Mastgenetik) erreichten dagegen gute und Mastrassekälber die besten Mastergebnisse (100 % Mastgenetik). Ob die Kälber aus dem eigenen Betrieb stammten, ob sie zugekauft waren oder an der Mutter oder Amme gemästet wurden, hatte keinen Einfluss auf den Ausmastgrad.

Betriebsleiter mit Erfahrung in der kuhgebundenen Kälbermast waren sicher im Vorteil, so Schneider. Durch ein geschultes Auge und mit dem Wissen, wie die Zunahmen beeinflussbar sind, ließe sich die Schlachtkörperqualität von Kälbern in der kuhgebundenen Kälbermast verbessern. Die Konkurrenz zur Milchablieferung und der damit verbundenen geringeren Milchverfügbarkeit für die Kälber habe auf melkenden Betrieben möglicherweise eine Rolle für die geringe Fettabdeckung gespielt. „Denn neben der Genetik ist die Intensität der Fütterung, also die aufgenommene Milchmenge, entscheidend.“