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Diversifizierung

Landurlaub: Barrierefrei bei Gästen punkten

Dietmar Fund
am Mittwoch, 06.07.2022 - 10:00

Menschen mit Handicap sind treue Kunden für Urlaubsangebote. Wer sich auf sie einstellt, bietet allen Gästen mehr Komfort.

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Das barrierefreie „Reisen für alle“ bietet auch landwirtschaftlichen Betrieben gute Chancen, die Urlaub auf dem Bauernhof anbieten. Man muss dafür nicht den ganzen Betrieb auf einmal „umkrempeln“, sondern kann schrittweise vorgehen und sich so auch an den Umgang mit gehandicapten Menschen herantasten. Maßnahmen zur Barrierefreiheit bieten gleichzeitig mehr Komfort für alle Gäste. Solche ermutigenden Informationen gab der letzte der fünf Online-InfoTalks zum ländlichen Tourismus, den der Ruhstorfer Arbeitsbereich Diversifizierung der Landesanstalt für Landwirtschaft (LfL) angeboten hat.

„Barrierefreiheit ist ein wichtiges Zukunftsthema“, erklärte Susanne Wibbeke, Geschäftsführerin des „Blauen Gockel“, der Dachorganisation für Bauernhof- und Landurlaub in Bayern. „Es geht dabei auch um Investitionen, die mehr Komfort für alle bringen. Rampen und Aufzüge zum Beispiel nutzen auch Gästen mit Kinderwagen und mit viel Gepäck.“ Es gehe nicht darum, den ganzen Betrieb umzugestalten, sondern darum, ihn auf Barrieren zu durchleuchten. Bei Um- und Neubauten solle man schon heute die Barrierefreiheit mit einbeziehen.

Barrierefreiheit bedeute, dass jeder ein touristisches Angebot ohne fremde Hilfe nutzen könne, erläuterte Monika Tetzner vom Bereich Netzwerk- und Partnermanagement der Bayern Tourismus Marketing GmbH (BayTM) den 71 angemeldeten Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Das sei für zehn Prozent der Bevölkerung „unentbehrlich“, weil sie blind, taub oder auf einen Rollstuhl angewiesen seien; für 40 % „notwendig“, die Senioren seien, und für 100 Prozent „komfortabel“. Auch Familien mit Kindern und der in den letzten 20 Jahren deutlich gewachsene und weiterhin wachsende ältere Anteil der Bevölkerung profitiere davon.

Mit 53 % den größten Anteil an der Zielgruppe „Menschen mit Behinderung“ hätten körperlich eingeschränkte Personen, gefolgt von 20 % mit geistiger/seelischer Behinderung, 5 % mit Sehbehinderung und 4 % mit Hör- oder Sprachbehinderung sowie 18 % mit einer unbekannten Behinderung, berichtete Tetzner. Solche in ihrer Mobilität eingeschränkte Gäste machten vor allem in Deutschland Urlaub und seien eine attraktive Zielgruppe, weil sie bei einem entsprechenden Angebot häufiger reisten und auch standorttreu seien. Viele seien mit Begleitpersonen unterwegs und blieben länger.

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„Barrierefreiheit ist ein schrittweiser Prozess, für den Sie sich realistische Ziele setzen sollten“, riet die Referentin. „Ein barrierefreies Zimmer bietet oft einfach mehr Aktionsradius. Taktile Bodensysteme für Sehbehinderte lassen sich auch nachträglich einbauen. Die erste und die letzte Treppenstufe kann man ebenfalls nachträglich markieren.“

Stockhalter am Empfang, Abstellplätze für Rollatoren und Kinderwagen, Lichtwecker oder mobile Rampen nannte sie als weitere einfache Maßnahmen. Ein gutes Hilfsmittel zur ersten Orientierung interessierter Betriebe sei das „Maßband Barrierefreie Maße“, das man per E-Mail (Phan-Thi@bayern.info) anfordern könne.

„Weil die Zielgruppe internet-affin ist, sollte man die Barrierefreiheit auch auf seiner Homepage berücksichtigen und damit das Ranking in den Suchmaschinen verbessern“, riet Tetzner. BayTM habe Ansprechpartner, die dabei weiterhelfen könnten.

In der anschließenden Fragerunde sagte die Referentin, erste kleinere Schritte könnten darin bestehen, auch in halber Höhe Kleiderhaken für Kinder und für Rollstuhlfahrende aufzuhängen, Infomaterial ebenso gut zugänglich zu präsentieren und einen Stockhalter an der Rezeption anzubringen.

Gäste mit Handicap fragten keine anderen Dienstleistungen nach und bräuchten höchstens etwas Unterstützung. Sie seien gut informiert und machten nicht mehr Arbeit. Sie hätten sicher nicht die Erwartungshaltung, dass der Stall barrierefrei sei. Unsicherheit ihnen gegenüber könne man mit Erfahrung überwinden. Tetzners Fazit: „Wichtig sind verlässliche Informationen zur Barrierefreiheit und nicht die vollständige Barrierefreiheit.“

Nach einem Video über die Begutachtung der Barrierefreiheit am Ferienhof Lang in Bad Wörishofen präsentierte Yvonne Eiber aus Waldmünchen ihr Landhotel Großeiberhof. Sie hat sich mit ihrem Mann Matthias seit Oktober 2021 auf den Hotelbetrieb mit sieben Zimmern im umgebauten Stallgebäude spezialisiert. Seither betreibt ihr Sohn Julian den Biohof mit 60 Rindern und 100 Hühnern nur noch im Nebenerwerb. Zunächst hätten sie nach einer Marktanalyse nur auf einen Mangel an Hotelbetten in ihrer Region reagiert, aber dann auf Nachfrage des Touristikbüros die Marktlücke „barrierefreier Urlaub“ angepeilt. Das betraf in ihrem Fall zunächst ein großes Zimmer, den Eingang und den Parkplatz. „Ein Ehrenämtler aus der Offenen Behindertenarbeit hat unser Projekt beurteilt und festgestellt, dass die Einfahrt in den Frühstücksraum je nach Rollstuhl schwierig ist und dass ein geschotterter Weg ein Handicap darstellt“, berichtete die Reiseverkaufskauffrau, die früher in zwei Wellnesshotels gearbeitet hat. „Solche Tipps sind Gold wert.“ Der Parkplatz und der Hof sind jetzt durchgehend gepflastert.

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Ein großes Zimmer im Erdgeschoss hat das Ehepaar mit einer breiten Terrassentür ausgestattet, durch die auch ein Pflegebett geschoben werden könnte. Die beiden Betten sind ebenso verschiebbar wie die Nachttische. Ein begehbarer Schrank und ein klappbarer Tisch, den ein Rollstuhlfahrender unterfahren kann, gehören ebenso zur Ausstattung wie ein unterfahrbares Waschbecken, ein längerer Wasserhahn, eine Schnur für den Notruf sowie ein Duschvorhang statt einer Falttüre in der Dusche.

Die Armaturen und der Seifenhalter sind dort tiefer als sonst angebracht. Auf Wunsch bekommen die in ihrer Mobilität eingeschränkten Gäste das Frühstück und das Abendessen im Zimmer serviert. Diesen aufpreisfreien Service nähmen viele gerne in Anspruch, berichtete Yvonne Eiber. Auch der Klapptisch käme sehr gut an.

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Auf den Rat der offenen Behindertenarbeit hin hätten sie den Preis für dieses größere Zimmer etwas erhöht, um die Investitionen abzudecken, berichtete die Gastgeberin. „Eine gewisse Berührungsangst ist nicht zu leugnen“, sagte sie. „Man muss sich einfach trauen, auf die Leute zuzugehen. Die Hemmschwelle bei körperlich gehandicapten Menschen fällt schnell, denn sie sind sehr herzlich und dankbar.“

Die Landwirtschaft sei und bleibe ihr „Steckenpferd“, sagte die Referentin zum Abschluss. Sie wollten eher noch den Gemüseanbau erweitern. Ruheoasen auf dem Hofgrundstück seien auch für Behinderte gut erreichbar. Die Schotterwege zum Lavendelfeld, zur Kuhweide und zum mobilen Hühnerstall könnten Rollstuhlfahrende mit einer Begleitperson bewältigen – solche mit Elektrorollstühlen allerdings leider nicht. „Unsere gehandicapten Gäste sind dankbar dafür, dass sie bei uns einmal etwas Anderes erleben können, zum Beispiel ein Pony streicheln oder den Stall anschauen“, erzählte Eiber.

Auch bei ihr im Grenzland zu Tschechien hat es sich bewährt, eng mit Ämtern zusammenzuarbeiten – ein Rat, den Regine Wiesend vom Bayerischen Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (StMELF) den Teilnehmerinnen und Teilnehmern mit auf den Weg gab. „Die Landwirtschaft ist ein ganz besonderer Markenkern“, lautete ihr Schlussstatement. „Tiere und Pflanzen anzufassen, ist etwas ganz Besonderes.“

Das StMELF hatte die fünfteilige virtuelle Inforeihe über die LfL organisiert. Für diese fünf Kurse hatten sich insgesamt über 600 Interessierte angemeldet.

Diese Betriebe sind zertifiziert

Alle Betriebe, die nach dem 2015 eingeführten nationalen Kennzeichnungssystem „Reisen für Alle“ zertifiziert sind, werden auf der Homepage erlebe.bayern/urlaub-fuer-alle aufgeführt. Basis der Zertifizierung ist der Besuch eines „Erhebers“, der jeden Betrieb für alle fünf Behindertengruppen beurteilt. Von den Erhebungskosten (zwischen 220 und 420 € zuzüglich mindestens 100 € für die Zertifizierung) übernimmt die Bayern Tourismus Marketing GmbH derzeit bis zu 500 €.

Auf der Plattform sind unter 201 Unterkünften nur acht aktive Bauernhöfe registriert:

  • Stadel-Hof, Altötting

  • Wohlfühlhof Schmalzmühle, Röckingen

  • Ferienhof Dirnberg, Amerang

  • Huisn Hof, Arrach

  • Granerhof Ferien, Böbing

  • Landhaus Knestel, Langenwang

  • Meisterbauernhof Kriechbaumer, Ainring

  • „Beim Kiasn“, Halfing.

Für Neulinge aus der Landwirtschaft ist noch Luft nach oben.

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