Florian Maderspacher ist 26 Jahre alt und auf einem Milchviehbetrieb in Oberammergau aufgewachsen. Dieses Jahr spielt er bei den Passionsspielen in Oberammergau erstmals eine Hauptrolle. Als Josaphat ist er als ein Mitglied des Hohen Rates von Mai bis Oktober auf der Bühne zu sehen.
Dem Wochenblatt erzählt er im Interview, wie er sein Berufsleben dafür umkrempeln muss, warum er sich am Ende des Jahres auf einen Friseurtermin freut und wie sich das ganze Dorf an das große Event anpasst, das nur alle zehn Jahre stattfindet.

Florian Maderspacher lässt sich seit zwei Jahren Haare und Bart für seine Rolle bei den Passionsspielen wachsen.
Wochenblatt: Du spielst bei den Passionsspielen, die von Mai bis Oktober dieses Jahr dauern und über 100 Vorstellungen umfassen, einen Hohepriester. Machst Du in dieser Zeit noch etwas anderes?
Florian Maderspacher: Dabei sind die Proben und Probespiele noch gar nicht mitgerechnet. Wir proben ja bereits seit Dezember. In dieser Zeit dreht sich wirklich fast alles bei mir und bei uns im Dorf um die Passionsspiele. Die Passionsspiele verbinden uns als Dorf, jeder nimmt sich dafür Zeit, man freut sich darauf. Es sind nicht nur die Darsteller, bei den Passionsspielen sind über 2000 Leute dabei: Von den Leuten hinter den Kulissen über Platzanweiser bis hin zur Feuerwehr. Leute aus meinem Jahrgang, die woanders studieren, kommen heim, um mitzumachen. Schon daran erkennt man, dass die Passionsspiele einen hohen Stellenwert bei uns haben. Viele Leute arbeiten Teilzeit, nehmen Urlaub oder unbezahlten Urlaub. Ich selbst habe eine 75-Prozent-Teilzeitstelle als Arzt im Praktikum, damit ich das schaffe. Meine Rolle ist doppelt besetzt. Da habe ich nur zwei- oder dreimal in der Woche eine Aufführung. Aber eine Aufführung dauert mit Pausen von neun Stunden. Die Passionsspiele sind in dieser Zeit mein Lebensmittelpunkt. Nebenbei helfe ich noch meinem Vater und Onkel, die einen landwirtschaftlichen Milchviehbetrieb führen, den Betrieb trotz Passionsspiele am Laufen zu halten. Denn auch sie machen bei den Passionsspielen mit.
Wochenblatt: Die Passionsspiele sind nicht irgendein Theaterstück, sondern erzählen das Leben und Sterben Jesu. Berührt einen das mehr als andere Theaterstücke?
Florian: Wir sind 2019 zur Vorbereitung auf die jetzigen Passionsspiele, die eigentlich 2020 stattfinden sollten, nach Israel gereist. Diese Reise hat mich sehr zum Nachdenken gebracht und ich habe besser verstanden, wie es damals hätte sein können. Die Frage, die für mich im Mittelpunkt der Passionsspiele steht: Was bringt Menschen dazu, einen anderen Menschen umzubringen? Das Land Israel litt damals unter der römischen Besatzung, unter Unterdrückung und Ausbeutung. Pilatus und der Hohe Rat, der aus jüdischen Priestern bestand, hatten die Aufgabe, das Land ruhig zu halten. Und dann kommt ein junger Rebell, der sagt, dass das nicht richtig ist, und will die Menschen zum Umdenken bewegen. Doch genau diejenigen, die schon lange auf ihn, den Messias warten, glaubten ihm nicht. Dazu muss man wissen, dass schon vor Jesus zahlreiche andere gesagt haben, dass sie der Messias wären. Doch der Hohe Rat will keine Unruhe oder Revolution. Kaiphas sagt in diesem Zusammenhang, dass es besser sei, wenn einer stirbt, als wenn ein ganzes Volk zugrunde geht. Ich glaube, die Geschichte lässt niemanden der Darstellenden unberührt.
Wochenblatt: Du spielst ein Mitglied des Hohen Rates, einen jungen Priester namens Josaphat?
Florian: Ja, die Rolle ist in diesem Jahr zum ersten Mal eine Hauptrolle, hat aber keinen biblischen Hintergrund. Es gibt keinen Josaphat in der Bibel. Josaphat ist im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern des Hohen Rates, alles alte, weise Männer, ein junger Mann, der Jesus in Frage stellt. Er ist zwar an dem Wirken von Jesus interessiert, aber eine richtige Chance gibt er ihm nicht. Er will ihn gar nicht verstehen. Er bangt um seine Stellung als Mitglied des Hohen Rates und sieht diese durch die Revolution, die Jesus anstoßen möchte, bedroht. Deshalb entscheidet er sich für den Hohen Rat und versucht, Jesus als Unruhestifter und Revoluzzer zu enttarnen.
Wochenblatt: Haben die Passionsspiele für Dich eine aktuelle Botschaft?
Florian: Bei der Reise nach Israel fragte ich mich immer wieder: Was hätte ich damals gemacht? Und jetzt: Was hätte ich als Josaphat gemacht? Wir urteilen immer sehr schnell über Richtig, Falsch, Schuld oder Unschuld. Mich regen die Passionsspiele dazu an, Sachen zu hinterfragen, nicht vorschnell zu urteilen und verurteilen. Dazu gehört auch zu hinterfragen, ob bestimmte Traditionen noch richtig sind.
Wochenblatt: Das Publikum bei den Passionsspielen ist meist eher älter. Würde diese Botschaft nicht auch Jugendliche ansprechen?
Florian: Genau deshalb veranstalten wir bei diesen Passionsspielen zum ersten Mal Jugendtage vor der eigentlichen Premiere. Wir wollen damit jungen Leuten, zwischen 16 und 28 Jahren, die Möglichkeit geben, sich die Passionsspiele für wenig Geld anzuschauen. Am 7. und 8. Mai können die Jugendlichen ein Probespiel anschauen, es gibt eine Einführung, eine Podiumsdiskussion mit Spielleiter Christian Stückl und einigen Darstellenden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass vor allem junge Leute teilweise nicht wissen, was die Passionsspiele sind. Oft werde ich auch gefragt, warum meine Haare so lang. Seit zwei Jahren lasse ich Haare und Bart extra für die Passionsspiele wachsen.
Wochenblatt: Nach der letzten Aufführung gehst Du dann zum Friseur?
Florian: Wenn ich mich auf eine Sache freue, dann, dass ich mir die langen Haare abschneiden und den Bart abrasieren kann. Beides würde ich sonst nie tragen. Bei der letzten Aufführung ist aber auch viel Wehmut dabei. Ich war schon als Kind bei den Passionsspielen dabei und vor 12 Jahren wieder. Bei der letzten Aufführung kommen alle Mitwirkenden auf die Bühne. Ich kann mich erinnern, dass viele Darsteller nach der letzten Aufführung weinen. Das ist einfach ein sehr emotionaler Moment. Ein ganzes Jahr ist man im Ausnahmezustand, man sieht sich fast jeden Tag und dann geht dieser Abschnitt zu Ende und man muss zehn Jahre bis zur nächsten Spielzeit warten.
Wochenblatt: Wie hast Du dich auf die Rolle vorbereitet?
Florian: Ich habe mir überlegt, was Josaphat für ein Mensch sein könnte und wie er denkt. Man hat ein halbes Jahr Zeit, in die Rolle hineinzuwachsen und mit dem Regisseur, auch über die Rolle zu diskutieren. Alle neuen Hauptdarsteller bekommen Stimmbildungstraining. Denn es ist ziemlich anstrengend, über einige Stunden auf der Bühne zu stehen und laut zu sprechen. Da muss man wissen, wie man seine Stimme schont. Wir sind Laiendarsteller und reden alle bayerisch. Deshalb lernen wir auch deutlich und ohne Dialekt zu sprechen.
Wochenblatt: Wer darf überhaupt bei den Passionsspielen mitmachen?
Florian: Spielberechtigt ist man nur, wenn man entweder in Oberammergau geboren ist und dort wohnt oder seit mindestens 20 Jahren im Ort gemeldet ist. Jeder Spielberechtigte bekommt zwei Jahre vor den Passionsspielen einen Zettel, mit dem er sich für die Rollen bewerben kann. Ich habe schon bei Wilhelm Tell mitgespielt, der Regisseur Christian Stückl kannte mich also. Wer welche Rolle spielt, bleibt aber wirklich bis zur Bekanntgabe geheim. Das ist dann für jeden eine große Überraschung. Ich habe mich eigentlich gar nicht für die Rolle des Josaphat beworben, umso mehr habe ich mich gefreut. Eine Hauptrolle zu spielen, das ist eine große Ehre.