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Erntedank 2020

Ist der Hunger ausgestanden?

PD Dr. Rainer Hufnagel
am Freitag, 02.10.2020 - 15:53

Der Hunger in der Welt ist weniger geworden, aber nicht ausgestanden. Dass Hunger nicht nur eine Ursache hat und mehr als eine Folge, zeigt ein Blick zurück in die Geschichte des Hungers in Europa und Deutschland.

Auf einen Blick

  • In Europa entstanden Hungersnöte mehrfach durch Klimaänderungen, z. B. während der Klimaabkühlung im 14. Jahrhundert und in Folge des Vulkanausbruchs in Indonesien im Jahr 1815.
  • Rapides Bevölkerungswachstum war in der Geschichte ebenfalls oft eine der Ursachen für Hungerkatastrophen.
  • Kriege waren und sind sowohl Ursache als auch Folge von Lebensmittelknappheit.
  • Mittels wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt in der Landwirtschaft wurden Hungersnöte in Europa zurückgedrängt.
  • Eine Einengung der Wahrnehmung auf eine Ursache für Hunger birgt die Gefahr der Ideologisierung.

1970 hungerte noch 28 Prozent der Menschheit

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Im Jahr 1970 hungerte noch 28 Prozent der Menschheit, im Jahr 2015 waren es noch elf Prozent. Der Rückgang der Hungernden weltweit ist kein Anlass, sich zufrieden zurückzulehnen in der Erwartung, dass sich dieser Trend fortsetzen werde. Die Food and Agriculture Organisation (FAO) prognostiziert, dass die Weltbevölkerung in den nächsten Jahren auf zehn Milliarden Menschen anwächst. Sollen alle gut ernährt werden, muss die Nahrungsproduktion um 50 Prozent steigen. Der kaum mehr aufzuhaltende Klimawandel stellt dabei ein gewaltiges Hindernis dar. Die Anzahl der Ackerflächen und ihre Fruchtbarkeit werden in der weltweiten Bilanz eher ab- als zunehmen.

Bevölkerungswachstum und Klimaveränderungen sind eine typische Konstellation für die Entstehung von Hungerkatastrophen. Ein Beispiel aus der Geschichte ist die große Hungersnot in Irland. Um 1847 verhungerten dort rund eine Million Menschen (von 7 Mio.). Eine weitere Million Iren sah sich zur Auswanderung gezwungen. Die Bevölkerung war zuvor so sehr gewachsen, dass sie nur noch mit Kartoffeln ernährt werden konnte. Durch nasse Sommer kam es jedoch zur „Kartoffelfäule“. Die Menschen wurden nicht mehr satt und starben an Seuchen und Hunger.

Mehr Menschen brauchen mehr zu essen

Biologen wie Paul Colinvaux (1980) attestieren der Spezies Homo sapiens, dass sie die Bevölkerungszahl fortwährend an die Grenze ihrer technisch-ökonomischen Möglichkeiten ausdehne. Jede Störung dieses subkritischen Zustandes – wie ein Klimawandel – müsse deshalb zu Hunger und Bevölkerungsrückgang führen. Die gegenwärtige Erderwärmung ist für die landwirtschaftliche Produktivität ebenso bedenklich wie die Nässe und Kälte des 19. Jahrhunderts. Und die Weltbevölkerung wächst weiter. Können wir die Grenze der ökonomisch-technischen Möglichkeiten schnell und weit genug ausdehnen? Was können wir dafür aus der Geschichte lernen?
Während des Hochmittelalters erlebte Europa eine Wärmeperiode. Die Pflanzen konnten in den Mittelgebirgen und im Norden besser wachsen. Die Wälder wurden gerodet, die Bevölkerung wuchs deutlich. Im 14. Jahrhundert wurde das Wetter wieder kühler und nässer. 1315 bis 1317 kam es in ganz Europa zu schweren Hungersnöten. 1347 kam die Pest nach Europa und fand in der unterernährten Bevölkerung reichen Nährboden. Wissenschaftler schätzen die damaligen Bevölkerungsverluste auf 30 bis 50 Prozent. Die nunmehr geschrumpfte Bevölkerung ließ sich wieder besser ernähren. Die Arbeiter in Stadt und Land konnten höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen.

Klimaveränderungen als Ursache von Hungersnot

Der Trend zur Klimaabkühlung setzte sich weiter fort. Am Ende des 16. Jahrhunderts kam es wieder vermehrt zur Not, mündend in die Katastrophe des 30-jährigen Krieges, der einen Bevölkerungsverlust von rund 50 Prozent zur Folge hatte. Im 17. und 18. Jahrhundert wuchs die Bevölkerung wieder. Die Einführung des Kartoffelanbaus ermöglichte ein Bevölkerungswachstum über das Vorkriegsniveau hinaus.
Einen Tiefpunkt in der Klimageschichte stellt das Jahr 1816 dar. Durch einen großen Vulkanausbruch in Indonesien 1815 war sehr viel Staub in der Atmosphäre, der das Sonnenlicht abhielt. Am schlimmsten betroffen in Europa waren die Länder nördlich der Alpen. Bis in den Juli und August hinein kam es zu Schneefällen und Nachtfrost. Das führte zu Missernten, Teuerung und Hunger. Die Napoleonischen Kriege verschärften die Situation. Die Not hielt bis 1819 an. Nur allmählich kam die Sonne wieder durch.

Was das Cannstatter Fest mit Hunger zu tun hat

Die Regierenden – besonders in Süd- und Mitteldeutschland – wollten eine solche Krise in Zukunft vermeiden. Man setzte auf eine Verwissenschaftlichung der Landwirtschaft und auf den Praxistransfer der neuen Einsichten. So wurde 1818 die Universität Hohenheim gegründet und das Canstatter Volksfest ins Leben gerufen. Jahrmarkt und Bierzelte dienten dazu, die Landbevölkerung in die Residenz zu locken, um ihr die neuen Methoden in Ackerbau und Viehzucht vorführen zu können.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnten die Bevölkerung und das wachsende Proletariat aber weiterhin nur mit Hilfe der Kartoffel ernährt werden. Als die besonders nassen Sommer der 1840er-Jahre zur „Kartoffelfäule“ führten, kam es zu einer großen Auswanderungswelle, zu Revolten und letztlich zur Revolution 1848.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelang es, die Ernährungssituation in Europa grundlegend zu verbessern. Stallmist und Mineraldüngung ließen die Erträge beträchtlich steigen. Durch Dampfschiffe und Eisenbahn gingen Transporte schnell, waren verlässlich und billig. Lebensmittel konnten aus Überflussgebieten in Mangelgebiete gebracht werden. Die Erfindung des Einweckens, der Konservenbüchse und der Kältemaschine erleichterten Transport und Vorratshaltung. Schließlich brachte die Züchtung der Zuckerrübe eine neue und sehr energieeffiziente Pflanze in das Nahrungsangebot.

Kriege machten jeden Fortschritt zunichte

Gleichzeitig wuchs allerdings die Bevölkerung. Agglomerationen wie das Ruhrgebiet und Millionen-Metropolen wie Berlin entstanden. Zu Beginn des ersten Weltkriegs war Deutschland auf Nahrungsmittelimporte angewiesen. Der Erste Weltkrieg führte erneut in eine Ernährungskatastrophe. Von Amerika war Deutschland durch die Seeblockade der Engländer abgeschnitten, Russland mit seinen Kornkammern war ein Feindstaat.
Verschärfend gingen die heimischen Ernten zurück, weil gerade die Bauernsöhne an die Front beordert wurden. Besonders schlimm wurde es nach 1917 („Steckrübenwinter“). Nach schlechten Kartoffelernten versuchte man, die Bevölkerung mit Futterrüben einigermaßen zu ernähren. Der Erfolg war gering, weil Rüben ein schlechterer Energielieferant sind als Kartoffeln oder Getreide. Im Herbst 1918 revoltierten die Menschen. Die Weimarer Republik begann ihr krisengeschütteltes Dasein. Bis 1920 war die Ernährungslage prekär, weil die Seeblockade erst aufgehoben wurde, nachdem Deutschland die Friedensbedingungen akzeptiert hatte.

Hunger trotz Überschussproduktion

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932 brachte wieder Hunger für Millionen Arbeitslose. Gleichzeitig verelendete die Landwirtschaft wegen unverkäuflicher Überproduktion. Arbeitslose können sich weder Fleisch noch Milch leisten.
Obwohl das nationalsozialistische Regime große Anstrengungen unternommen hatte, hinsichtlich der Nahrungsversorgung autonom zu werden, verschlechterte sich die Lage während des Zweiten Weltkrieges. Nach der Besetzung 1945 kam es wieder zu Hunger in großem Ausmaß. Die Infrastruktur war durch Kriegszerstörungen massiv eingeschränkt. Handel mit Agrarüberschussgebieten war nicht möglich. Zudem mussten Millionen Flüchtlinge und Vertriebene versorgt werden. Schon zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war ein Preisstopp für Lebensmittel verfügt worden.
Die wichtigsten Nährstofflieferanten wie Brot, Fett, Fleisch wurden mithilfe von Lebensmittelkarten rationiert. Die Besatzungsmächte verschärften die Rationierungen weiter. Rein auf Basis der Zuteilungen standen einem Erwachsenen pro Tag etwa 1100 Kilokalorien zu. Ein Überleben war nur mit Hilfe eigener Gärten, dem Tausch verbliebener Wertgegenstände gegen Lebensmittel bei den Bauern, Unterstützung durch Verwandte, Freunde, karitative Organisationen im Ausland und durch die Hilfslieferungen aus Großbritannien und den USA möglich. Ab 1947 wurde es besser, die Marshallplanhilfen brachten die Wirtschaft in Europa wieder zum Laufen.
In den 1950er-Jahren brachte das „Wirtschaftswunder“ Arbeit und wachsende Löhne für die breite Bevölkerung. Eine „Fresswelle“ war die Reaktion auf den durchlebten Hunger und wurde durch den neuen Wohlstand bezahlbar. Die Konsequenzen – Übergewicht und die Folgeerkrankungen sowie steigende Mortalität – zeigten sich seit den 1970er-Jahren. Heute essen wir Steckrübeneintopf - nicht, weil die Kartoffelernte schlecht ausgefallen ist, sondern um schlank und gesund zu bleiben.

Zur Illustration: Die Illustration zum Beitrag stammt von Käthe Kollwitz; Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Käthe-Kollwitz-Museums Köln (www.kollwitz.de). Die Künstlerin lebte von 1867 bis 1945. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit standen die Nöte der einfachen Bevölkerung, z. B. Hunger und Elend von Arbeiterfamilien, Wohnungsnot. Kollwitz war eine Meisterin darin, menschliches Leid, Verlust und Tod auf berührende Weise zu „erzählen“. Käthe Kollwitz ist eine der wenigen Frauen, deren Büste in der Walhalla (Lks. Regensburg) aufgestellt ist; damit wird ihre herausragende Stellung als deutsche Künstlerin gewürdigt.

Zum Autor: PD Dr. Rainer Hufnagel lehrt seit 2009 an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf in den Bereichen Lebensmittelmanagement und Ernährungs- und Versorgungsmanagement.

Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung des Bundeszentrums für Ernährung www.bzfe.de. Der Originalartikel „Geschichte des Hungers in Deutschland“ ist erschienen in Ausgabe 2/2020 der BZfE-Fachzeitschrift „Ernährung im Fokus“, www.ernaehrungimfokus.de