Die 80er-Jahre gelten als die Geburtsstunde der Gendermedizin, einer Medizin, die die Verschiedenartigkeit der Geschlechter berücksichtigt, um die Gesundheitsversorgung für alle Menschen zu verbessern.
Gendermedizin wird mit geschlechtsspezifischer oder geschlechtersensibler Medizin übersetzt. Sie ist eine vergleichsweise junge Disziplin und auch längst noch keine Selbstverständlichkeit – weder in den Kliniken, noch in den Praxen, noch in der Forschung oder im Medizinstudium. Erst seit kurzem gibt es den ersten medizinischen Lehrstuhl zu diesem Thema in Deutschland.
Es waren und sind bis heute Ärztinnen, die die geschlechtssspezifischen Unterschiede zu einem Thema der medizinischen Datenerhebung und Forschung machten und machen, mit dem Ziel, Erkrankungen bei Frauen wie Männern besser, individualisierter einzuschätzen und behandeln zu können.
Frauen sind keine kleinere, leichteren Männer
Eine der Vorkämpferinnen ist die heute 87-jährige amerikanische Kardiologin und Medizinwissenschaftlerin Dr. Marianne Legato. Sie machte die Erfahrung, dass Frauen und Männer die gleiche Krankheit unterschiedlich erlebten, dass die gleichen Ursachen beileibe nicht die gleichen Symptome auslösen.
Aufgefallen war dies bei Herzerkrankungen bis hin zum Herzinfarkt, die bei Frauen oft falsch oder zu spät diagnostiziert wurden und werden. 1992 veröffentlichte sie ihr Buch „The Female Heart“. Mit ihrer Veröffentlichung „Evas Rippe“ zeigte sie, dass der weibliche Organismus vom Körperbau über das Herz, Kreislauf, Magen, Darm, Lunge, bis hin zur Haut und zum Immunsystem nahezu komplett anders funktioniert als der männliche Körper. Frauen sind meist leichter, haben einen anderen Hormonhaushalt, eine andere Verteilung von Muskelmasse und Körperfett, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie als kleineren, leichteren Mann zu therapieren, ist nicht zielführend.
Nicht wehleidig, sondern Lebensgefahr

Legato schloss, dass Medikamente bei Frauen bewusster eingesetzt werden müssen, da sie anders wirken können. Meist benötigen Frauen eine andere Dosierung, häufig haben sie andere oder stärkere Nebenwirkungen. Insgesamt, so stellte sie fest, würden Frauen schlechter medizinisch versorgt. Sie würden als wehleidiger eingestuft, ihre Beschwerden oft als psychosomatisch abgetan.
So würden akute Herzpatientinnen schlechter und später behandelt als Männer. Die Anfänge der geschlechtsspezifischen Medizin liegen also in der Kardiologie. Bis heute erleiden laut Statistik mehr Männer als Frauen einen Herzinfarkt, aber bei mehr Frauen endet er tödlich. Das liegt daran, dass es außer den klassischen Anzeichen eines Infarktes, wie Schmerzen in der Brust, im Arm, Engegefühl, heftiger Druck, starkes Brennen im Brustkorb und kalter Schweiß, auch unspezifische Symptome gibt. Zu denen zählen Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Schmerzen im Nacken und zwischen den Schulterblättern sowie generelles Unwohlsein. Doch gerade Frauen, die einen Herzinfarkt erleiden, zeigen eher diese unspezifischen Zeichen – und dann ist es für den Notarzt manchmal schon zu spät.
WHO empfiehlt geschlechtsspezifische Gesundheitsvorsorge
Im Jahr 2001 empfahl die Weltgesundheitsorganisation WHO, im Gesundheitswesen lokale Strategien für eine geschlechtsspezifische Gesundheitsvorsorge zu entwickeln und umzusetzen. Das Angebot im deutschsprachigen Raum blieb allerdings überschaubar. In Deutschland startete die Fachärztin für Kardiologie Dr. Vera Regitz-Zagrosek an der Berliner Charité mit Gendermedizin.
Regitz-Zagrosek war bis 2019 Direktorin des Berlin Institute for Gender in Medicine und gab 2011 zusammen mit Sabine Oertelt-Prigione unter dem Titel „Sex and Gender Aspects in Clinical Medicine“ ein englischsprachiges Lehrbuch heraus. Dr. Sabine Oertelt-Prigione hat seit 2021 an der Uni Bielefeld den ersten und einzigen Lehrstuhl Deutschlands für Gendermedizin inne. In Österreich war man deutlich schneller: An der Uni Wien gibt es bereits seit 2010 und an der Uni Innsbruck seit 2014 Lehrstühle für Gendermedizin. Dort ist seit 2010 auch der Erwerb eines Master of Science in Gendermedizin möglich.
Personalisierte Medizin
Längst geht es nicht mehr nur darum, die Gesundheitsversorgung von Frauen zu verbessern. Gendermedizin greift viel weiter. Sie ist die Voraussetzung, allen Geschlechtern die für sie beste, individuelle Gesundheitsversorgung von der Prävention, über die Diagnose bis hin zur Therapie anbieten zu können. Der Fachbegriff hierfür ist personalisierte Medizin.
In den Jahrzehnten der Genderforschung gab es eine Fülle von Erkenntnissen und eine Menge neuer Fragen. Etliche als typisch männlich oder typisch weiblich eingestufte Erkrankungen bedeuteten für das jeweils andere Geschlecht eine schlechtere, zeitlich oft verzögerte Gesundheitsversorgung, so wie bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bei denen Frauen andere Symptome als Männer zeigen.
Männer können auch "Frauenkrankheiten" bekommen
Genau anders herum verhält es sich bei Rheuma, der Osteoporose oder Brustkrebs. Sie treten statistisch häufiger bei Frauen auf, was aber nicht bedeutet, dass Männer nicht ebenfalls betroffen wären. Ähnlich verhält es sich im Fachgebiet der Psychiatrie: Bei Männern sind psychische Erkrankungen weniger gut erforscht. Ihnen wird bei seelischen Problemen eher weniger Mitgefühl entgegengebracht als Frauen. Während Frauen nach Operationen beispielsweise bei Brustkrebs psychologische Betreuung angeboten wird, ist das bei Männern mit Prostatakrebs nicht der Fall. Sie werden seltener wegen psychischer Krankheiten wie Depression behandelt, aber häufiger wegen Suchterkrankungen wie Alkoholabhängigkeit. Dabei sind diese durchaus auch bei Frauen verbreitet.
Bekannt ist auch, dass das Immunsystem von Frauen vor der Menopause hormonell bedingt stärker reagiert und dadurch heftiger auf Entzündungen. Aus diesem Grunde treten auch Autoimmunerkrankungen wie Diabetes Typ 1, Morbus Crohn, Multiple Sklerose und die Schilddrüsenerkrankungen Basedow und Hashimoto prozentual häufiger bei Frauen auf.
Geschlechtsspezifische Unterschiede bei Corona
Interessant sind die Ergebnisse des internationalen Forschungsteams um Dr. Sabine Oertelt-Prigione zur Corona-Forschung. In Kliniken und Praxen wurde beobachtet, dass die Erkrankung bei Männern und Frauen oft verschiedene Krankheitsverläufe zeigt. Männer mussten häufiger in Kliniken behandelt werden und starben häufiger. Bisher kennt man die Ursachen nicht. Dabei sind Frauen, die häufiger in Pflegeberufen arbeiten, einem hören Infektionsrisiko ausgesetzt.
Eigentlich müssten also Frauen und Männer bei Corona unterschiedlich behandelt werden und diese Tatsachen in klinischen Studien und in der Gesundheitspolitik berücksichtigt werden, schließt Dr. Sabine Oertelt-Prigione in einem Interview mit dem Mitteldeutschen Rundfunk.
Mit ihrem Team aus den Niederlanden und Dänemark untersuchte sie 4420 Forschungsarbeiten, die innerhalb eines Jahres von Januar 2020 bis Januar 2021 entstanden waren und stellte fest: „Die meisten klinischen Studien zum Coronavirus und der damit verbundenen Erkrankung ignorieren, dass Frauen und Männer unterschiedlich davon betroffen sind.“ Das führe zu höheren Risiken für Nebenwirkungen.
Ihr Team fordert deshalb in der Corona-Forschung eine geschlechtsspezifische Methodik sowie umfassendere Analysen geschlechtsspezifischer Auswirkungen und Erfahrungen.
Dranbleiben an der Forschung für Gendermedizin
Die Gendermedizin hat gezeigt, dass bei der statistischen Erfassung von Erkrankten und ihren Krankheitsbildern eben größeres Augenmerk auf das Geschlecht gelegt werden muss. Auch das unterschiedliche Gesundheitsbewusstsein der Geschlechter ist ein Thema. Frauen gehen konsequenter zu Routine- und Vorsorgeuntersuchungen.
So beschäftigt man sich unter anderem auch bei den Krankenkassen mit der Frage, wie man Gesundheitswissen an den Mann und die Frau bringt, wie man sie in den unterschiedlichen Altersstufen und Lebensphasen zum Arzt, zu Vorsorgeuntersuchungen lockt.
Manche Praxis oder Klinik, so wie die „München Klinik“, setzt sich inzwischen explizit mit der Thematik der Gendermedizin auseinander und jeden Tag kommen neue Erkenntnisse zu diesem jungen Forschungsfeld dazu.