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Medizinische Versorgung von Kindern

Versorgung im Kindernotfall: Auf dem Land gibt es Lücken

Damit die Einsatzzentrale schnell Hilfe schicken kann, müssen Eltern Ruhe bewahren und einen klaren Kopf bewahren. Nur so lässt sich wertvolle Zeit sparen.
Claudia Bockholt
Claudia Bockholt
am Dienstag, 13.09.2022 - 14:51

Kindernotärztin und Buchautorin Dr. Katharina Rieth erklärt im Interview, was Eltern häufig falsch machen, wenn es zu einer Notfall-Situation mit ihren Kindern kommt.

Ihr Fachwissen hat die Kindernotärztin in dem Fachbuch "Fit für den Kindernotfall" zusammengefasst. Darin erklärt sie unter anderem, warum das Internet meist ein schlechter Ratgeber ist. Im Wochenblatt-Interview gibt sie einen Einblick in das Thema.

Frau Dr. Rieth, Deutschland hat ein gut funktionierendes Rettungswesen. Warum reicht es für Eltern trotzdem nicht, die Notrufnummer 112 im Kopf zu haben?

Kindernotfälle machen nur 6,4 Prozent aller Notfälle aus. Aber genau hier liegt das Problem vergraben. Denn Kinder sind eben keine kleinen Erwachsenen und sollten deshalb auch nicht als solche behandelt werden. Diesbezüglich gibt es in der Ausbildung von Ärzten und Rettungsdienstpersonal aufgrund fehlender Routine jedoch große Lücken. Eltern denken: Wenn ich die 112 anrufe, dann kommt  einer, der Ahnung hat. Aber das ist nicht immer der Fall.

Wieso denn das?
Richtige Kindernotärzte mit eigens für diesen Zweck ausgestatteten Rettungsmitteln gibt es selten. In München ist dies z.B. der Fall. Anderswo muss der Regelnotarzt bei Bedarf einen Kinderarzt und eine Kinderkrankenschwester aus der Klinik über die Leitstelle anfordern. Und Sie können sich vorstellen, wieviel Zeit vergeht, bis die  beim Kind  ankommen. Deswegen ist es so wichtig, dass Kinder direkt vor Ort bereits vor Eintreffen des Rettungsdienstes durch Laien, also Eltern, Erzieher, Lehrer und alle, die mit Kindern zu tun haben versorgt werden.

Und so eine Wartezeit, kann die lebensgefährlich sein?
Kinder unterscheiden sich, sowohl was die Anatomie, die Physiologie als auch die Emotionen angeht, deutlich vom Erwachsenen. Sie haben zum Beispiel einen unheimlich hohen Sauerstoffverbrauch bei gleichzeitig niedrigeren Sauerstoffreserven.  Beim Atemstillstand werden somit die Organe in kürzester Zeit nicht mehr richtig versorgt und es kommt zum Herzstillstand. Säuglinge können beispielsweise nur 20 bis 30 Sekunden ohne Sauerstoff auskommen. Selbst wenn im Rahmen der professionellen Reanimation durch Adrenalingaben das Herz wieder anspringt - die minutenlange Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff durch tatenloses Zusehen bis zum Eintreffen des medizinischen Personals kann durch dieses nicht mehr rückgängig gemacht werden. Daraus resultieren schwere Hirnschäden, und alles nur, weil vor Ort aus Angst, Verunsicherung und Unwissen nicht rechtzeitig reagiert wurde. Dieser Problematik sind sich viele Eltern nicht bewusst. Wir als Erwachsene können ja problemlos ein, zwei Minuten die Luft anhalten.

Notarzt

Wie oft passiert es, dass Kinder zu ersticken drohen und welche Maßnahmen sollten dann ergriffen werden?
Bei Kindernotfällen handelt es sich überdurchschnittlich oft um sogenannte respiratorische Störungen. Im ersten Lebensjahr ist das sogar der häufigste Notfall. Um beim Atemstillstand beatmen zu können ist es wichtig, dass man sofort die Atemwege frei macht. Schon da gibt es anatomische Besonderheiten. Säuglinge sollte man dafür in die sogenannte Schnüffelposition bringen. Das funktioniert gut, wenn man zum Beispiel eine saubere Windel, ein Federmäppchen oder irgendetwas unter die Schulterblätter schiebt, so dass der Kopf ganz leicht nach hinten fällt. In dieser Position kann man Kinder unter dem ersten Lebensjahr  super beatmen. Dabei muss man schauen, ob sich der Brustkorb hebt. Denn das wichtigste ist, dass Luft in der Lunge ankommt. Die meisten Kreislaufstillstände bei Kindern beruhen nämlich auf Luftwegsproblemen.  Beispielsweise, weil etwas in den Atemwegen steckt. Solange das Kind noch Lebenszeichen zeigt, sollte man es sich quasi in Kopftieflage übers Knie legen und zwischen die Schulterblätter klopfen. Bei größeren Kinder kann man den Heimlich-Griff anwenden. So ist es möglich, den Fremdkörper rechtzeitig zu entfernen und einen Herz-Kreislaufstillstand zu verhindern.

Gibt es etwas, was besonders viele Eltern falsch machen?
In den Köpfen vieler Menschen ist drin: Oh Gott, meinem Kind geht’s schlecht, ich ruf‘ die 112 an. Dabei ist das Wichtigste erst einmal: Ruhe bewahren! Wenn man nur panisch in den Hörer reinschreit, geht Zeit verloren. Der Leitstellendisponent kann erst dann Hilfe losschicken, wenn er weiß, wo der Anrufer sich befindet. Ruhe bewahren auch deshalb, weil die eigene Unruhe sich aufs Kind überträgt. Wenn ein Kind, das Luftprobleme hat, völlig aufgelöste, weinende und schreiende Eltern sieht, wächst die Angst und damit die Luftnot. Ebenso wichtig: Auf Eigensicherung achten, zum Beispiel an einer Unfallstelle oder am Wasser. Wenn ich selbst nicht schwimmen kann, sollte ich zum Beispiel meinem Kind nicht ins fließende Gewässer hinterherspringen. Denn am Ende müssen die Helfer ihre Kräfte plötzlich auf die Rettung zweier Menschen aufteilen, anstatt sich auf das Kind konzentrieren zu können.

Als ich Ihr Buch durchgeblättert haben, habe ich selbst – Mutter eines erwachsenen Kindes – einen ganz schönen Schreck bekommen. Da waren einige Gefahren geschildert, von denen ich nichts geahnt hatte. Haben Sie keine Sorge, dass Eltern durch die Darstellung von Extremsituationen und Gefahren noch nervöser werden, als sie ohnehin schon sind?
Definitiv nicht. Das, was die meisten Eltern heutzutage verunsichert zurücklässt , ist die unübersichtliche Informationsflut im Internet gespickt mit Falschaussagen von vermeintlichen Experten zu Kindernotfallthemen. Aufgrund der fehlenden Gesundheitskompetenz  sind viele Eltern häufig gar nicht in der Lage, diese zu filtern. Dazu kommt, dass viele Eltern heutzutage aus Angst, etwas falsch zu machen, rasch die Verantwortung abgeben. Ich möchte mit dem Buch dazu beitragen, dass sich das wieder ändert.

Was sollte eine wichtige Erkenntnis sein?
Dass es ausschlaggebend ist zu erkennen, wann es sich überhaupt um einen Notfall ist handelt und abgrenzen kann, wann Abwarten und die Mittel der Hausapotheke ausreichen. Viele Eltern stellen sich mit ihrem ansonsten fit wirkenden Kind zum Beispiel wegen Fieber in der Notaufnahme vor – ohne jemals dessen Temperatur gemessen zu haben. Auf der anderen Seite kommt es auch vor, dass Eltern eine Situation unterschätzen und gar nicht mitkriegen, dass es ihrem Kind richtig schlecht geht. Deshalb ist es wichtig Eltern zu schulen, damit sie erkennen können, „wann wirklich die Bude brennt“ und sie sich schnellstmöglich mit dem Kind in der Notaufnahme vorstellen oder den Notarzt rufen sollten. Es gibt beide Extreme. Ich bin mir sicher, dass man mit dem Buch einerseits die Gesundheitskompetenz der Eltern verbessern kann, andererseits den Eltern wieder mehr Vertrauen in sich selbst geben kann. Denn nur wer den Notfall erkennt, kann richtig handeln und schlussendlich Leben retten.

Früher wurde doch auch vieles von Generation zu Generation weitergegeben. Stehen Mütter und Väter denn heute einsamer da?
Junge Eltern verlassen sich nicht mehr so auf das, was die eigenen Eltern sagen. Sie googeln lieber, sind in Internet-Chats oder auf irgendwelchen Portalen unterwegs. Das dortige Wissen wird leider selten überprüft, und im Kleingedruckten steht meist, dass kein Verlass auf richtige Angaben besteht. Tatsächlich sehen wir in der Kindernotfallambulanz ganz häufig Kinder, die durch ihre Eltern guten Gewissens gemäß solchen Falschinformationen vorbehandelt wurden und müssen dann dementsprechend gegensteuern.

Können Sie Beispiele nennen?
Ja, ein trauriges Beispiel, kürzlich erst passiert: Ein Neugeborenes wurde wegen Fieber von seinen Eltern mit Wadenwickeln versorgt. Diese waren in Essigessenz getaucht und wurden eine Stunde drangelassen. Neben der verkannten Neugeboreninfektion hat das Baby schwerste Verätzungen an beiden Unterschenkeln davongetragen. Ein anderes Beispiel sind Eukalyptussalben, die Säuglinge von ihren Eltern bei Schnupfen auf die Brust geschmiert bekommen. Das sollte man bei Säuglingen einerseits vermeiden, weil deren Haut sehr empfindlich ist, andererseits können Kindern unter zwei Jahren dadurch eine Reizung der Atemwege und im schlimmsten Fall sogar einen Atemstillstand bekommen.

Sie beklagen auch, dass unser Gesundheitssystem die Bedürfnisse von Kindern in der Notfallmedizin nicht wirklich im Blick hat.
Ja, genau! Obwohl die Untersuchung in der Regel langwieriger ist – unter anderem, weil man meistens erst einmal die Eltern beruhigen muss – wird für Kinder die gleiche Zeit angesetzt wie für Erwachsene. Und am Ende gibt es sogar weniger dafür, nach dem Motto: kleine Kinder, kleines Geld. Da ist wirklich noch viel Luft nach oben in Deutschland. In der Ausstattung, in der Ausbildung, der Fortbildung. Ich sag immer, man muss gar nicht erst ins Ausland fahren, um Entwicklungshilfe zu leisten. Man kann direkt vor der eigenen Haustüre anfangen.