Genaue Zahlen gibt es nicht. „Kind mit kranken Eltern“ ist keine statistische Größe. Erfasst werden aber die Zahlen stationärer Klinikaufenthalte von Erwachsenen. Rechnet man den durchschnittlichen Anteil an Eltern hoch auf die durchschnittliche Zahl an Kindern und zählt eine Dunkelziffer an Menschen dazu, die zwar krank, aber nur ambulant oder gar nicht in Behandlung sind, kommen Experten auf eine Zahl von deutlich mehr als eine Million Kinder. Schattenkinder werden sie häufig genannt, weil sie im Schatten kranker Eltern aufwachsen, und nicht mit der Aufmerksamkeit, die ein Kind und das Kindsein eigentlich in einer Familie haben sollte.
Schattenkinder: So werden Kinder schwer kranker Eltern oft genannt
Schwer kranke Eltern können aus hunderten von Gründen Alltag und Erziehung nicht so bewältigen, wie gesunden Eltern dies mehr oder weniger gut gelingt. Kranke Eltern schaffen es oft gar nicht, weil die Kraft nicht reicht, so gerne sie es auch möchten. Das macht Schuldgefühle und verunsichert zusätzlich; in einer Situation, in der das ebenfalls verunsicherte und besorgte Kind möglichst viel Sicherheit brauchen würde.
„Zur eigentlichen Krankheit kommen oft noch andere Belastungsfaktoren hinzu“, sagt Sabine Wagenblass, Professorin für soziale Arbeit an der Hochschule Bremen und fachliche Leitung der Bundesarbeitsgemeinschaft „Kinder psychisch kranker Eltern“.
Die Kinder fühlen sich häufig allein gelassen, weil sie mit niemandem darüber reden können. Denn in vielen betroffenen Familien wird darüber bewusst oder unbewusst Stillschweigen bewahrt. Aus Scham und weil man mit seinen Problemen nicht hausieren geht. Oder um sich und die Kinder vor abwertenden und verletzenden Äußerungen anderer zu schützen. Gerade beim Thema Suchterkrankungen und auch bei psychischen Erkrankungen sind Außenstehende oft vorschnell mit Urteilen und Meinungen. „Das schaffen wir schon alleine“, denken sich daher die Betroffenen.
Kinder kranker übernehmen früh Erwachsenenrolle
Und das schaffen diese Familien auch tatsächlich. Die Kinder packen an, wie und wo es nur geht und sein muss. Machen Frühstück für sich und die Eltern, putzen, kochen, gehen einkaufen, überwachen die Medikamenteneinnahme und kümmern sich darum, dass kleine Geschwister ihre Hausaufgaben machen. „Dass die Kinder mit anpacken, ist okay“, sagt Sabine Wagenblass. „Jobs erledigen, das müssen Kinder in vielen anderen Familien auch.“ Problematisch wird es, wenn die Kinder nicht mehr nur kleine Arbeiten, sondern die allumfassende Verantwortung dafür übernehmen, dass der Alltag läuft. Dann sind die Kinder auf einmal in der Rolle der Erwachsenen. Und haben kein eigenes Leben als Kind und Jugendlicher mehr.
Der 17-Jährige geht nicht auf Partys am Wochenende, weil er zuhause sein muss: Um aufzupassen, dass der Vater sich nicht übermäßig betrinkt. Die 20-Jährige zieht nicht weg zum Studium, sondern macht eine Ausbildung vor Ort, damit sie die kleinen Geschwister weiterhin versorgen kann. Kleinere Kinder können zu Außenseitern werden, weil sie sich nicht trauen, Freunde mitzubringen und auch nirgends hingehen mögen, weil sie eben keine Gegeneinladung aussprechen können.
Schuldgefühle bei Kindern sind nicht selten
Dazu kommen spezielle Sorgen und Gedanken, die besonders dann groß und bedrohlich werden können, wenn in der Familie nicht offen darüber geredet wird, was eigentlich los ist mit Mama oder Papa. Jüngere Kinder denken zum Beispiel oft, sie wären schuld, „dass Mama immer müde ist“ oder „Papa immer traurig“. Weil sie frech und schlecht im Rechnen sind oder ihr Zimmer immer so unordentlich ist. Ältere Kinder haben oft Angst, selber krank zu werden. Sie schämen sich für die Situation zu Hause, sind wütend auf die Eltern. Und haben genau deswegen wieder Schuldgefühle.
In Kliniken und Therapieeinrichtungen gehört es mehr und mehr dazu, auch die Angehörigen in den Blick zu nehmen. Aber nicht jeder will oder kommt in stationäre Behandlung. Gerade die psychische Versorgung ist in Deutschland lückig und schwer zu überblicken. An wen wendet man sich denn nun? Auf dem Land kommt hinzu, dass der Weg oft sehr weit ist. Zumal es für eine Familie, die nervlich am Limit ist, schon eine Herausforderung ist, einen solchen Termin zu organisieren.
„Gleichzeitig“, das betont Sabine Wagenblass, „heißt es nicht, dass eine Kindheit mit kranken Eltern vorhersehbar im Chaos und Elend endet.“ Je mehr Faktoren zusammen kämen, womöglich auch noch Beziehungsprobleme oder Finanznöte, desto höher sei die Gefahr. Auf der anderen Seite kann in einem ansonsten intakten Umfeld das Problem „Krankheit“ oft gut bewältigt werden.
Bezugsperson außerhalb der Familie hilft dem Kind
Rein statistisch ist genau dieses Umfeld besonders wichtig: Eine zugewandte Bezugsperson außerhalb der Familie, die Oma, der Onkel, der Fußballtrainer, die Nachbarin können für die Kinder ein Segen sein.
Wer in seinem Bekanntenkreis betroffene Familien kennt, kann das ganz nebenbei organisieren: das Kind mal zum Spielen einladen und den Eltern signalisieren, dass eine Gegeneinladung gar nicht wichtig ist. Die Kinder mit in den Zoo nehmen, einfach als Gesellschaft für die eigenen Kinder. Wenn in der Kita oder Schule der Faschingsball ansteht, sich als Mitfahrgelegenheit anbieten und so dem Kind, das sonst nicht hätte kommen können, die Teilnahme ermöglichen.
Betroffene Kinder haben so einen zweiten Raum, in dem sie Ruhe haben vor ihren Pflichten und ihrer Verantwortung. Und sie haben Kontakt zu anderen Kindern, können mit ihnen spielen, toben, rumalbern, streiten, wie Kinder es eben machen.
Ob und wie man das Kind auf die Situation zu Hause anspricht, erfordert Fingerspitzengefühl. Ein Satz wie „Du hast es echt ganz schön schwer, bei euch zu Hause ist das alles nicht leicht gerade, oder?“ hilft oft schon viel. In ihm liegt alles, was die Kinder und ihre Eltern brauchen: Anerkennung der Situation, und Anerkennung für das, was sie leisten, ohne Wertung und Schuldzuweisung. Das macht es leichter, um Hilfe zu bitten oder angebotene Hilfe überhaupt anzunehmen. Oder ins Gespräch zu kommen über die Frage: „Was würde es dir, euch, denn leichter machen?“
Schattenkind sein hat auch gute Seiten
Ganz generell: Keine Kindheit ist krisenfrei. Die eine Familie zieht dauernd um, in der anderen wird jemand arbeitslos oder die Eltern lassen sich scheiden. Ein Großteil der Schattenkinder wächst ohne große Schäden auf, wie viele andere Kinder auch, und lebt dann sein Leben. Oft taucht das Thema erst wieder auf, wenn sie eine eigene Familie gründen, die Eltern sterben oder sie anderweitig in eine Krise geraten, bei der sie sich mit sich selbst auseinandersetzen. Auch dann können sich Betroffene Hilfe und Beratung holen, und sich damit auseinandersetzen, was war.
Wer als Schattenkind aufgewachsen ist, hat auch viel auf der Habenseite. Einfühlungsvermögen und gute Fähigkeiten im Umgang mit anderen Menschen, Belastbarkeit, Zusammenhalt, das Gefühl, eine Krise bewältigt zu haben und im Leben auch weitere durchzustehen. „Sein Schicksal kann man nicht ändern, wohl aber den Umgang damit“, sagt Sabine Wagenblass. Egal, ob mit 8, 11, 17 oder auch im Rückblick mit 50 oder 71 Jahren. „Wie heißt es doch: Es ist nie zu spät, eine gute Kindheit zu haben. Ein schöner Satz, an dem etwas Wahres dran ist.“
Wo gibt es Rat und Hilfe?
Kinder kranker Eltern haben feine Antennen. Sie merken schnell, wenn über sie geredet wird und nicht mit ihnen. Wer betroffene Kinder unterstützen möchte, kann ihnen im Alltag unter die Arme greifen und durch Freizeitaktivitäten und Ausflüge ein Stück Kindheit zurückgeben.
Rat holen können sich Menschen im persönlichen Umfeld bei pädagogischen Fachkräften in der Kindertageseinrichtung und Vertrauenslehrkräften an der Schule. Auch Bücher sind eine Hilfe, betroffenen Eltern und Kindern einfühlsam zu begegnen und ihnen in der schwierigen Lage beizustehen:
- Kinder psychisch kranker Eltern benötigen besondere Beachtung, um nicht selbst einmal psychisch zu erkranken. Mit welchen Gefühlen betroffene Kinder oftmals zu kämpfen haben, wie eine depressive Erkrankung entsteht und was man dagegen tun kann, wird Kindern zwischen 4 und 8 Jahren in dem Kinderbuch Als Mama nur noch traurig war von Anja Möbest, Coppenrath Verlag, ISBN 978-3649620211, 15 €, feinfühlig erklärt. Mit einem Elternnachwort von Diplom-Psychologin Ina Knocks.
- Das Kinderfachbuch Sonnige Traurigtage von Schirin Homeier richtet sich an Kinder ab 7 Jahre und Erwachsene, die betroffene Kinder begleiten, Mabuse Verlag, ISBN 978-3863215347, 28 €.
- Sehr ausführlich ist das Buch Kinder psychisch kranker Eltern stärken – Informationen für Eltern, Erzieher und Lehrer von Albert Lenz und Eva Brockmann, Verlag Hogrefe, ISBN 978-3801724207, 16,95 €.
- Ein schmales, zweckmäßiges Buch: Ratgeber Kinder psychisch kranker Eltern von Albert Lenz und Silke Wiegand-Grefe, Hogrefe, ISBN 978-3801725907, 9,95 €.
- Nicht ausdrücklich um Kinder psychisch kranker Eltern, sondern um alle geht es in Kindheit im Schatten: Wenn Eltern krank sind und Kinder stark sein müssen von Maja Roedenbeck, K Ch. Linksverlag, ISBN 978-3861538790, 18 €.
Neben Bücher helfen folgende Webseiten:
- www.bag-kipe.de, die Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder psychisch kranker Eltern. Auf der Website ist auch der Film „Lilli“ zu sehen, der Einblick gibt in das Leben zweier betroffenen Kinder und für das Thema sensibilisiert.
- Ausdrücklich auch für Kinder körperlich kranker Eltern ist die Homepage www.kinder-kranker-eltern.de.