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Digitale Medien

Digitalisierung: Fluch und Segen zugleich

Mutter und Oma telefonieren per Video am Laptop mit der Tochter/Enkelin.
Anja Kersten
am Freitag, 26.03.2021 - 10:00

Eine Bischöfin spricht über die Folgen der Digitalisierung: In vielen Situationen erleichtern uns Handy, Tablet und PC den Alltag. In der virtuellen Welt lauern aber auch Gefahren – vor allem für Kinder, Jugendliche und Frauen.

Homeschooling, Online-Veranstaltungen und virtuelle Treffen mit Freunden – was vor über einem Jahr noch die Ausnahme war, ist inzwischen Alltag. Die Digitalisierung hat durch die Corona-Pandemie eine unerwartete Dynamik erfahren. Welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf die Gesellschaft, auf die Arbeitswelt, besonders die von Frauen und welche Möglichkeiten haben Dörfer, den Zusammenhalt durch Digitalisierung zu stärken? Mit diesen Fragen befasste sich ein Online-Seminar der Agrarsozialen Gesellschaft in Göttingen mit dem Thema „Land(Frau) Digital“.

 

Digitalisierung bringt Generationen zusammen

Ein Porträt der jungen Bischöfin. Sie trägt kurze blonde Haare, eine Brille mit transparentem Gestell, lächelt herzlich und trägt eine weiße Bluse mit zugeknöpftem Kragen. Darüber einen beigen Pullover, einen dunkelblauen Blazer und eine rosefarbene Statementkette um den Hals.

Auch wenn viele sich wünschen die Zeit der Online-Veranstaltungen sei bald vorbei, brauchen wir uns nur einmal vorstellen, es gäbe die Digitalisierung nicht. Es ist noch nicht so lange her, dass Menschen Kriege, Katastrophen und Epidemien überstehen mussten, ohne dass sie wussten, ob der andere noch lebt, schilderte Dr. Petra Bahr, Regionalbischöfin, Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannover, die Auswirkungen der Digitalisierung auf unser Leben. Sie bezeichnete die Digitalisierung deshalb als „einen Gewinn“. Viele Dinge, von denen man annahm, dass sie digital nicht möglich seien, sind es mittlerweile: Gottesdienste oder Trau- und Trauergespräche, führte die Regionalbischöfin als Beispiele aus ihrem Alltag an.

Die Digitalisierung lässt Generationen näher zusammenrücken. Vieles, was die Älteren heute im Umgang mit Smartphone und Co. wüssten, hätten sie mit Hilfe der jüngeren Generation gelernt. Da erklärt der Sohn der Mutter wie sie ihre Freundinnen zu einer Zoom-Konferenz einlädt, da erklärt die Enkelin ihrer Oma wie sie mit ihrem Handy Fotos verschicken kann und es entsteht ein reger Austausch von Kochrezepten über Hunderte von Kilometern. Ob man den Kontakt mit Freunden aufrechterhalten kann, hängt nicht mehr davon ab, ob man im selben Dorf wohnt, man kann sich virtuell treffen und zwar auf der ganzen Welt. Damit eröffnet die Digitalisierung neue Möglichkeiten des sozialen Miteinanders und neue Verbindungen zwischen Menschen.

„Das alles ist großartig, hat aber auch seine Schattenseiten. Denn Digitalisierung grenzt aus.“ Nicht jeder hätte ein Smartphone, nicht jeder hätte Enkel, die ihm den Umgang mit diesem erklären, so Bahr. Die Digitalisierung hat die soziale Kluft eher noch vergrößert.

 

Die Schattenseite: Ausgrenzung

Menschen werden aus bestimmten Lebensbereichen ausgeschlossen. Wer als junger Mensch kein Smartphone besitzt, tut sich schwer, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu bleiben, wenn Verabredungen nur noch über WhatsApp getroffen werden. Wer als Schüler oder Schülerin beim Homeschooling nicht über die nötigen technischen Endgeräte verfügt, kann dem Unterricht nicht folgen. Damit führt die digitale Isolation ungewollt und unverschuldet zur sozialen Isolation.

Denn unsere Gesellschaft basiert auf Kommunikation. Es ist ein menschliches Bedürfnis miteinander zu sprechen. Kommunikation hat viel mit Persönlichkeit zu tun, aber Persönlichkeit lässt sich schwer digitalisieren.

 

Die Person wird auf ihre Art zu sprechen reduziert

Bei einer Video-Konferenz sehe ich nur den Ausschnitt einer Person, zeigte Dr. Petra Bahr den Unterschied zu einem persönlichen Treffen auf. Ob die Person eine Jogginghose anhat oder einen Rock, wie sie sich bewegt, wie sie auftritt, mit welchen Gesten sie das Gesagte unterstreicht und ihre Stimmungen, kann man dabei nur schwer oder gar nicht erkennen. Alles, was man nicht mit Worten ausdrücken kann, sieht man nicht. Damit bekommt das, was die Person sagt und wie sie spricht, eine größere Bedeutung als bei einem Treffen. „Die Person wird auf ihre Art zu sprechen reduziert“, so die Theologin.

 

Eine Frau sitzt im Schneidersitz auf dem Sofa. Auf ihrem Schoß steht ein aufgeklapter Laptop. Sie Videotelefoniert gerade. Obenrum trägt sie Bluse und Blazer. Untenrum eine karierte Pyjamahose.

Nur Platz für das Wesentliche im Chat

Und manches, was ein Treffen unter Freunden und Bekannten so wertvoll machen kann, funktioniert bei einen Video-Chat gar nicht: Das Schweigen. Eine Umarmung ist unmöglich. Auch Klatsch, eine humorvolle Zwischenbemerkung, der kurze und leise Austausch mit seinem Nachbarn während einer Veranstaltung, ist nicht möglich. Der Video-Chat reduziert sich auf das Wesentliche.

Das ist nicht nur bei Video-Chats der Fall, sondern auch beim Schreiben von Nachrichten. Die Menschen passen sich unbewusst dieser Verkürzung und Zuspitzung an und übertragen das auf die Kommunikation in der Familie und unter Freuden, folgert die Bischöfin weiter. Was man seinen Freunden und der Welt in Posts und Fotos mitteilt, soll prägnant sein und gefallen, schließlich geht es darum viele „likes“ zu bekommen. Forscher befürchten, so die Theologin, dass dadurch bestimmte Themen nicht mehr angesprochen werden, aus Angst, nicht mehr anerkannt zu werden – in der Sprache von Social-Media: Follower zu verlieren.

 

Oft Frust bei Kindern und Jugendlichen

Dass die Fotos auf Instagram und die Videos auf YouTube nicht die Wirklichkeit, sondern nur einen Ausschnitt zeigen, ist uns Erwachsenen klar – Kindern und Jugendlichen aber weniger. „Sie leben in einer virtuellen Welt“, machte die Theologin klar. Für Kinder und Jugendliche könne es ganz schön frustrierend sein, wenn ihr Leben so ganz anders ist als das, welches sie auf YouTube und Instagram sehen. Dort scheinen alle Menschen schön zu sein, tragen immer tolle Klamotten, befinden sich an aufregenden Orten und haben viel Spaß, während man selbst alleine daheimsitzt.

Selbst wir als Erwachsene sind nicht immun dagegen. Wer hat nicht schon mal einen Anflug von Neid gespürt, wenn der Freund oder die Freundin Fotos von ihrer Wanderung gepostet haben, während man selbst arbeiten musste. In den sozialen Medien scheinen sich Menschen unbeobachtet zu fühlen, führte Bahr Gründe an, warum dort beleidigt und beschimpft wird.

 

Das Netz als moderner Boxsack für Aggressionen

Mit roter Farbe steht auf weißem Hintergrund: „Jeder hat zu allem  eine Meinung, egal,  ob er dafür ausgebildet ist  oder nicht.“

„Es ist, wie wenn man sich in einem Land befindet, wo einen niemanden kennt“, erklärt die Theologin. Dieses „Nicht erkannt“ zu werden scheint zu einer Enthemmung zu führen. Man ist eher bereit Menschen zu kränken. Social Media sieht man als einen Raum, wo man seine Aggressionen ablassen kann. Früher hat man Holz gehackt oder gegen den Boxsack geboxt, heute schimpft man in den sozialen Medien, beleidigt und kränkt Menschen, schilderte die Regionalbischöfin dabei auch ihre eigenen negativen Erfahrungen.

Eine Unterscheidung zwischen Person und Amt gäbe es nicht mehr. Alles, was man selbst nicht gut fände, wird in Bausch und Bogen verurteilt, ohne dem anderen eine andere Meinung zuzugestehen oder sich kritisch mit der Meinung des anderen auseinanderzusetzen.

Ob man auf diesem Gebiet Wissen vorweisen kann, ist egal. „Jeder hat zu allem eine Meinung, egal, ob er dafür ausgebildet ist oder nicht.“ Trotzdem vertrat Dr. Petra Bahr den Standpunkt, dass man keine neuen Regeln und Haltungen für Social Media bräuchte. „Es reicht, wenn man die bekannten Regeln aus der analogen Welt in die digitale Welt übernimmt“. Die da wären: Respekt, Höflichkeit und andere nicht wahllos beschimpfen.

 

Auch die Arbeitswelt wandelt sich

Die Digitalisierung verändert nicht nur die Art zu kommunizieren, sondern auch die Arbeitswelt. Dass sich damit Branchen, Berufsbilder und Anforderungsniveaus ändern ist jedem von uns klar. Dass sich der digitale Wandel aber unterschiedlich auf Männer und Frauen auswirkt, ist weitgehend unbekannt. Noch immer gibt es bei dem Zugang zur Digitalisierung einen Unterschied zwischen Männern und Frauen, wie Simone Malz vom Niedersächsischen Landfrauenverband anhand einer Untersuchung des Deutschen Gewerkschaftsbundes präsentierte.

 

Frauen haben weniger oft Zugang zu Geräten

Mit roter Schrift steht auf weißem Hintergrund:

Männer sind besser mit Geräten ausgestattet, sie nutzen das Internet häufiger, sie schätzen ihre digitale Kompetenz höher ein und sind offener gegenüber der Digitalisierung.

Laut der Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes arbeiten zwar über die Hälfte der befragten Frauen mit digitalen Technologien, es fällt aber auf, dass dies eher höher qualifizierten Frauen sind. Gering qualifizierte Frauen arbeiten dagegen viel seltener mit neuen Technologien als gering qualifizierte Männer. Das läge daran, dass Frauen mehr in Dienstleistungen, im Verkauf, in der Pflege und Erziehung tätig sind, leitete die Studie einen Zusammenhang ab.

Die Mehrheit der Frauen, die trotzdem mit mobilen Geräten im Homeoffice arbeiten, sparen sich zwar den Arbeitsweg, geben aber an, dass sich für sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf nicht verbessert hat. Schon vor Corona waren sie mehr für Haushalt und Kinder zuständig. „Die Frauen tragen die Hauptlast der unbezahlten Sorgearbeit“, so das Fazit von Simone Malz.

Auch wenn wir zurzeit oft genug von Videokonferenzen, digitalen Treffen mit Freunden oder Familie und Livestreams haben: „Die digitalen Medien sind trotzdem nicht schlecht. Es kommt auf uns an und die Art wie wir sie nutzen“, resümiert Petra Bahr.

 

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